
Yuyarina Pacha in Witoca
Die mestizische Chakra und ihre Bioarchitektur
Ana María Durán CalistoAn der Landstraße zwischen Coca und Galeras in der Gemeinde Huaticocha, Provinz Orellana, innerhalb des Sumaco-Parks befindet sich Witoca, ein gemeindebasiertes soziales Biounternehmen. Konzipiert wurde Witoca von Andrea Elizabeth López Álvarez und Fabio Wellinton Legarda Solano. Mit ihrer Förderung und Unterstützung zeigt Witoca, dass es nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist, die Verbreitung von Chakras[1] im Amazonasgebiet zu fördern, insbesondere wenn die staatliche Politik an einer neuen Ausrichtung der „Entwicklungs“politik in städtischen, stadtnahen und ländlichen Regionen arbeitet, um Unternehmen wie dieses zu fördern, voranzubringen und Anreize zu schaffen. Die Neuorientierung zeigt sich auch im staatlichen Bildungssystem, das inzwischen Fächer wie Agrarwissenschaft, regionale oder internationale „Entwicklung“ und sogar Architektur, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur in die Lehrpläne aufgenommen hat.
Andrea und Fabio lernten sich beim Förderprogramm Ethnische Vielfalt an der Universidad San Francisco de Quito (USFQ) kennen, für das sie nach ihrem Schulabschluss ein Stipendium erhalten hatten. Beide waren in ihren jeweiligen Schulen die einzigen AbsolventInnen, die eine Universität besuchten. Andrea hatte das Glück in der oberen Amazonasregion zwischen Wapuno und Toñanpari geboren und aufgewachsen zu sein; während ihres Studiums lernte sie ihre Heimat noch mehr schätzen und lieben. Ihr Vater war in Toñanpari, einer bedeutenden Waorani-Gemeinschaft, als Lehrer tätig. Fabio stammt aus Huaticocha. Sein Vater war vor der Gewalt in seiner kolumbianischen Heimatstadt Guaitarilla (Pasto) geflüchtet und hatte 35 Hektar einer der sogenannten IERAC[2]-Farmen gekauft, die im Zuge der Agrarreform und des Besiedelungsprogramms entstanden waren. An der USFQ belegte Andrea mehrere Archäologiekurse und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin des ecuadorianischen Archäologen Florencio Delgado. An der Universität erlebte sie die Konfrontation mit den Ursprüngen ihrer Geschichte, die, wie Andrea es ausdrückt, „von der totalen Auslöschung bestimmt war, die unsere Bildung in der Amazonasregion geprägt hat.“[3] Die Erkenntnis habe eine existenzielle Krise ausgelöst.
2017 beschlossen Andrea und Fabio, den Río Napo flussabwärts bis nach Mazán, Iquitos und zum mächtigen Amazonas zu fahren. In einem Kajak reisten sie vom Río Payamino in Ecuador bis zu dem am Río Napo gelegenen Ort Puerto Rocafuerte. Von der peruanischen Grenze fuhren sie auf verschiedenen Booten den Fluss entlang, bis ihr Weg von Dorf zu Dorf sie nach Iquitos führte. Im peruanischen Regenwald entdeckten sie voller Überraschung den schwimmenden Staat, der sogar behördliche Einrichtungen auf dem Wasser transportierte: Das Einwohnermeldeamt bewegte sich auf dem Wasser, staatliche Zuwendungen wurden unter Nutzung der Flussstraßen an die Empfänger verteilt, Händler transportierten ihre Waren mit dem Boot. Der Schwimmende Bürgerservice ging auf die Anregung des peruanischen Politikers und Architekten Fernando Belaúnde Terry zurück, der von 1980 bis 1985 das Land regiert hatte. Diese Reise sollte ihr Leben verändern. Zurück in Ecuador beschlossen sie, ein Unternehmen zu gründen, das sich am Leben und der Geschichte der Region orientieren sollte. Sie entwickelten das Witoca-Logo, das einer Maske aus der Napo-Phase (ob es sich dabei um eine Omagua-Maske handelt, konnte von den Archäologen bisher nicht erklärt werden) nachempfunden ist, und wählten die Farben, die in den traditionellen Keramikarbeiten verwendet wurden: rot, schwarz, cremeweiß. Frühe Chronisten beschrieben die Töpferwaren dieser Region als „exquisit“, hochwertiger als die aus Málaga und anderen europäischen Kulturzentren.

Nach ihrem Abschluss zogen Fabio und Andrea nach Orellana, das traditionell für seine Kaffeeproduktion bekannt ist. Somit war es naheliegend, die Kaffeeerzeugung als Ausgangspunkt für ihr Projekt zu nehmen. Sie brauchten die Chakra nicht zu gründen: Sie war bereits vorhanden. Das Ziel war, die Produktivität zu steigern. Am Anfang erzeugten sie 50 Kilogramm getrockneten pro Hektar. Heute, sechs Jahre später, beträgt ihr durchschnittlicher Ernteertrag 300 Kilogramm pro Hektar. Das ist ein wichtiger Aspekt, denn, wie Andrea weiß, werden die Chakras und das Festhalten an dieser Tradition in den Planungsberichten oft als „Problem“, wenn nicht gar als Spinnerei bezeichnet, die der Ausweitung der landwirtschaftlichen Begrenzungen (das heißt: der Weiden und Monokulturen) im Wege steht. Nach und nach werden sie in der Literatur als „Lösung“ für das Rätsel um eine mögliche „nachhaltige Entwicklung“ im Amazonasgebiet erwähnt. Ich verwende absichtlich immer wiederkehrende Begriffe aus der Literatur zu internationalen, territorialen und regionalen Planungsfragen, um zu verdeutlichen, dass schon der Begriff „Entwicklung“ in der Amazonasregion problematisch ist, da er mit Extraktivismus, Enteignung der angestammten Bevölkerung, Umweltzerstörung und Armut verbunden wird. Wir brauchen neue Begriffe, neue Konzepte. Die Dichterin María Clara Sharupi Juá bevorzugt stattdessen den Begriff der „Co-Entwicklung“. Die Zusammenarbeit mit den traditionellen Gruppen des Amazonasgebiets bei allen Fragen der Planung und Gestaltung ist der Schlüssel zur nachhaltigen Zukunft der Region. Viele AgrarexpertInnen beharren auf ihrem Standpunkt, das Chakra-System sei sehr kompliziert und werde zwangsläufig weniger produzieren. Insofern ist die Forschung des Chilenen Miguel A. Altieri und der US-Amerikanerin Susanna Hecht von grundlegender Bedeutung: Ihnen geht es darum, empirisch nachzuweisen, dass agrarökologische Systeme sehr produktiv sind, wenn sie unter dem Aspekt ihrer Logik und nicht nach den Maßstäben von Monokulturen betrachtet werden. Das ecuadorianische Ministerium für Landwirtschaft und Viehzucht wird häufig von Menschen geleitet, die zugleich in den Führungsgremien agrochemischer Unternehmen vertreten sind oder waren. Das führt zwangsläufig zu einem Interessenkonflikt, den es zu vermeiden gilt, wenn die Planung dem Gemeinwohl dienen soll, insbesondere in Regionen wie dem Amazonasgebiet, das unter einer Vielzahl von Ungerechtigkeiten leidet.

Doch zurück zur lokalen Ebene. Andrea erzählt, dass die Kaffeepflanzen veraltet waren und aufbereitet werden mussten. Also fingen sie genau damit an. Schon bald fiel ihnen auf, dass der typische Zwischenhandelsmarkt in der Provinz auf Quantität und nicht auf Qualität Wert legte. Daher verlegten sie sich darauf, höhere Preise zu verlangen und ein besseres Produkt anzubieten. Wie sich herausstellte, hatten sie damit den richtigen Weg gewählt. Skeptiker des polykulturellen und agrarökologischen Chakra-Systems (manche bevorzugen den Begriff „Permakultur“) argumentieren, dass die Produktivität geringer sei. In Huaticocha hat nicht nur der Kaffeeanbau seine Produktivität gesteigert, auch viele andere Bereiche wie Lebensmittel-, Medikamenten-, Textil-, Baumaterial- und Kosmetikerzeugung konnten ihre Produktivität erhöhen, und alles wurde nachhaltig produziert. Die Gesamtproduktivität der Chakras, das heißt, die gesamte Bandbreite der Erzeugnisse, einschließlich der Ökosystemdienstleistungen wie Kohlenstoffbindung, im Detail zu erfassen, steht noch aus. Dazu bedarf es der Zusammenarbeit mit den Akteuren der Produktion, denn sie kennen die produktiven Dimensionen der Chakras während ihres gesamten Lebenszyklus am besten. Die Verzerrung der Resultate durch exogene Visionen und Vorstellungen von landwirtschaftlicher Produktion könnte dadurch vermieden werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass die soziale Logik der Chakra eine andere ist: Die Chakra funktioniert durch Symbiose, durch Verbreitung, durch den schrittweisen Anschluss anderer ökologischer Mikro-Agrarprojekte, die von Gemeinschaften, Verbänden oder Genossenschaften verschiedener Größenordnungen verwaltet werden. Auch die Regelung der Besitzverhältnisse folgt einer anderen Logik, und auch das muss in den nationalen Planungsstrategien berücksichtigt werden. In den meisten Verfassungen Südamerikas werden kommunale Landrechte anerkannt. Die Chakra funktioniert in privaten landwirtschaftlichen Vereinigungen, siehe beispielsweise Witoca, sie funktioniert in kommunalen Gebieten wie Mushullakta und in kommunal-privaten Partnerschaften. In riesigen Zusammenschlüssen von Ackerflächen in privater Hand kann sie nicht funktionieren.
Die mestizische Chakra. Man könnte behaupten, dass alle oder die meisten Chakras im Amazonasgebiet mestizisch sind, da der biologische Austausch zwischen der westlichen Hemisphäre und dem Rest der Welt mit der europäischen Kolonialisierung intensiviert wurde und bis heute andauert. Witoca ist ein Beispiel dafür, wie einige der neuen Chakra-Hybridisierungen funktionieren: Diese Systeme sichern nicht nur den Lebensunterhalt der Familie und der Gemeinschaft, sondern reagieren zugleich auf die verschiedenen Anforderungen der lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Märkte. Die mestizische Chakra[4] produziert traditionelle Agrarprodukte (Maniok, Bananen, Obstbäume, Süßkartoffeln, Chili usw.) und Markterzeugnisse wie Kaffee, Kakao, Ingwer, Kurkuma, Guayusa, Naranjillas (kleine Orangen) usw. Das Interessante an Witoca ist, dass die landwirtschaftlichen Produkte nicht nur angebaut, sondern auch weiter verarbeitet werden: Es wird Schokolade, Eiscreme, Bananenmehl, Kosmetika und Seife erzeugt und somit vor Ort Mehrwert geschaffen. Die Mitglieder sind an der Entwicklung neuer Bioprodukte wie Körpercremes beteiligt. In ihren Mehrzweckräumen gibt es eine Cafeteria und einen Laden, in dem sie ihre eigenen Produkte und die von anderen Biobetrieben aus der Region verkaufen. Kürzlich erhielt Witoca (Aso Amazonas) die Bio-Zertifizierung TourCert, mit der die hohe sozio-ökologische Qualität ihrer Bioprodukte nachgewiesen wird.
Als Andrea und Fabio in Huaticocha mit der Revitalisierung ihrer Chakra begannen, mussten sie feststellen, dass ihre Pflanzungen von einem Schädling namens „Kaffeebohrer“ befallen waren. Das Insekt, das sich von den Kaffeefrüchten ernährt, sollte sich zu einer der größten Herausforderungen entwickeln. Der Schlüssel, der die Permakultur zum „Weg zur Befreiung“ werden lässt, liegt laut Andrea in der Ausbildung von Gewohnheiten: zum richtigen Zeitpunkt ernten, Stoppeln einsammeln, Techniken zur Karbonisierung des Bodens anwenden, auf eine gleichmäßigere Reifung hinarbeiten, einen gleichbleibenden Rhythmus etablieren. Das agrarökologische Wissen der Amazonasregion wurde von Generation zu Generation weitergegeben; nun droht vieles davon in Vergessenheit zu geraten. Fabio und Andrea haben sich vorgenommen, diesen Prozess aufzuhalten. „In der Vergangenheit wurde bei der Zusammenstellung der Pflanzung auf die natürliche Schädlingsbekämpfung geachtet“, erklärt Andrea. Um das Prinzip der agrarökologischen Bewirtschaftung in die Tat umzusetzen, müsse man zunächst die Chakras wiederaufbauen und den Boden revitalisieren. Andrea erzählt, dass das Nationale Institut für landwirtschaftliche Forschung Ecuadors (INIAP) geeignete Technologien entwickelt habe, um die Ausbreitung des Kaffeebohrers zu verhindern, diese aber nicht vermarkten könne. Um die Technologien nutzen zu können, hat Witoca eine Vereinbarung mit einer NGO unterzeichnet: Die Betriebsmittel für das INIAP-Labor sollten von der NGO finanziert werden, dadurch würde Witoca über die notwendige Technologie verfügen, um die Pflanzungen von dem Insektenbefall zu befreien. Als die beiden ihr Biounternehmen ins Leben riefen, waren die Chakras aus dem Gleichgewicht geraten, es mussten mehrere Dosen des Pilzes angewandt werden, um den Käferbefall unter Kontrolle zu bekommen. Eine andere NGO stellte Mittel für die Vermehrung von Mikroorganismen zur Verfügung, die für die Wiederaufbereitung des Bodens benötigt wurden. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, wie wichtig es ist, Partnerschaften zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor aufzubauen. Die von dem Forschungsinstitut INIAP entwickelte Lösung muss unter die Leute gebracht und vermarktet werden, da etliche weitere Chakra-BetreiberInnen von der Idee profitieren, und zugleich wäre dies im gesamten Land eine wichtige Unterstützung für die Biounternehmen mit ihrer sozial-ökonomischen Ausrichtung.
„Oft hört man, dass die Böden im Amazonasgebiet zu nichts taugen“, erzählt Andrea, „aber das stimmt nicht. Der Boden verliert an Kraft, wenn wir ihm ein landwirtschaftliches System aufzwingen, das dem Wald fremd ist und bei dem die Nährstoffe schnell absorbiert werden. Uns wurde immer gesagt, dass man im Amazonasgebiet nicht auf Technologien zurückgreifen könne und dass daher um den Einsatz von Agrarchemie nicht herumkomme. Doch der Wald hat seine eigenen Technologien, und zwar die, die in seinem Kontext am besten funktionieren. Die Amazonasregion wird stets als armes, leeres Ödland beschrieben, das nicht in der Lage sei, große Bevölkerungsgruppen zu ernähren. Doch das ist nichts weiter als ein Teil eines Kolonialisierungsmythos. Als wir begannen, ‚Lösungen für die Probleme des Waldes‘ zu suchen, erfuhren wir, dass all diese ‚Lösungen‘ bereits existierten und schon von unseren Vorfahren angewendet wurden. Langsam aber sicher kehrt dieses Wissen in verständlicher, nicht-akademischer Form in die Regionen zurück, in denen sie entstanden sind. Ich habe bei dem Archäologen Florencio Delgado studiert. Er war es, der mich in die Archäologie der Amazonasregion einführte. Viele der Texte zu diesem Thema waren in englischer Sprache verfasst. Erst durch die Archäologie kam ich mit dem tiefen Wissen der indigenen Kulturen in Kontakt. Unsere Chakra heißt jetzt Permakultur, und die ist nun regelrecht in Mode. Unsere fruchtbaren Böden, in Brasilien als Terrapreta bekannt, werden Biokohle genannt. In Witoca lernen wir gerade wieder, wie man Terrapreta erzeugt. Das sind neue Begriffe für uralte Ideen. Man muss nicht den Wald abholzen, um den Boden mit organischen Stoffen anzureichern, das geschieht nach dem Rotationsprinzip. Entscheidend ist, dass man versteht, wie der Boden funktioniert. Die meisten Menschen vernichten die Mikroorganismen. Wir aber wissen, dass sie für die Agrarökologie von grundlegender Bedeutung sind. Die ‚modernen‘ Technologien, die wir anwenden, sind Jahrtausende alt, sie sind unsere Tradition.“
Ein weiteres Problem, mit dem sich die Amazonasregion heute konfrontiert sieht, ist die radikale Veränderung der Ernährungsgewohnheiten. Früher zählten Maniok, Kochbananen, Palmenmark und andere typische Erzeugnisse der amazonischen Chakra zu den Hauptnahrungsmitteln. Inzwischen werden im ecuadorianischen Hochland unter dem Einfluss der Ernährungsgewohnheiten der oberen Anden Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln verzehrt. Traditionell wurde in der llakta, einem rhizomatischen Netzwerk agroökologischer Dörfer und Orte, das angepflanzt, was für das Umfeld geeignet war; anschließend tauschte man dann die eigenen Erzeugnisse gegen das, was die Gemeinschaften aus anderen ökologischen Zonen zu bieten hatten. So wurde mit einer Vielzahl von Produkten verfahren. Heute wird das Agrarsystem unabhängig von der Beschaffenheit des ökologischen Bodens immer mehr ausgeweitet. Dazu werden Genome verändert, giftige Agrochemikalien (Herbizide, Pestizide) eingesetzt und die Böden mit Düngemitteln bearbeitet. Mit anderen Worten: Ein aufgezwungenes ökologisches System, das sich an den Gesetzmäßigkeiten der Monokultur orientiert, ist auf dem Vormarsch. Aufgrund der Bodenverhältnisse im Amazonasgebiet ist dieses System nicht nachhaltig und nicht zukunftsfähig. Fabio und Andrea engagieren sich für die Beibehaltung der traditionellen Ernährungsgewohnheiten und entwickeln zugleich verschiedene Mischformen und Diversifizierungen, die die moderne Welt verlangt (zum Beispiel bieten sie Speiseeis in verschiedenen Geschmacksrichtungen an). Außerdem möchten sie den Menschen in der Region deutlich machen, dass eine Ernährung, die sich auf Brot, Limonade und Konserven beschränkt, für die menschliche Gesundheit schädlich ist.
Hinsichtlich der Kommerzialisierung und Vermarktung der Produkte erkannten Andrea und Fabio, dass eine der größten Herausforderungen für die Betriebe im Amazonasgebiet darin besteht, sich von den Zwischenhändlern unabhängig zu machen. Diese sind nach wie vor die größten Nutznießer der Wertschöpfungsketten in der Region. Die Vermarktung der Produkte liegt in der Regel nicht in den Händen der Gemeinschaften, und die zahllosen Organisationen tendieren dazu, sich auf einen einzigen Käufer zu konzentrieren. Um nicht von einem einzigen Interessenten und einem einzigen Produkt abhängig zu sein, hat Witoca sich verschiedene Kunden für verschiedene Produkte gesucht. Die Etablierung von Partnerschaften bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. Die Entscheidung darüber, wie und von wem die gemeinsam erzeugten Gewinne verwaltet werden, führt oft zu Konflikten und Misstrauen. Andrea und Fabio haben einen Verband aufgebaut, die auf einem Bewusstsein für den immanenten Wert des Waldes beruht. Wesentliche Grundideen sind die Stärkung der Chakras, feste Aufforstungstage und Produktdiversifizierung. Nach und nach gewinnen sie an Bedeutung. Witoca hat gerade 5.000 Pflanzen erhalten, mit denen fünfzehn Chakras bestückt werden sollen. Ihre Aktivitäten als Verband basieren auf gemeinsamen Grundideen und Visionen. Es habe einige Zeit gedauert, bis verlässliche Partner gefunden waren, berichtet Andrea. Im Jahr 2018 schlossen sich zehn Familien mit zehn privaten Fincas an, einige aus der IERAC-Zeit, andere aus den Gemeinden. Die IERAC-Höfe sind gewöhnlich von Gemeindeland umschlossen.
Ein wichtiger Aspekt in der Anfangszeit von Witoca war die Möglichkeit zur Weiterbildung. In Zusammenarbeit mit den lokalen Regierungen förderten verschiedene NGOs Projekte zur Ausbildung von KaffeeverkosterInnen und Baristas. Andrea wurde als Verkosterin, Fabio als Barista ausgebildet, andere Mitglieder des Verbands wurden in Tätigkeiten geschult, die sie interessierten. Erste fachliche Grundlagen fanden sich bei Google, doch diese Form der Ausbildung stieß bald an ihre Grenzen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Erfolgs von Witoca war die Fähigkeit seiner Mitglieder, geeignete Mittel zur Förderung ihres sozial-ökologischen Unternehmens zu beschaffen. Im Jahr 2020 wurde der Vorschlag gemacht, sich um eine Förderung bei einer NGO zu bewerben, die sich der Unterstützung von Kaffeeunternehmen verschrieben hatte. Eine Bedingung für den Erhalt einer Förderung war jedoch, dass der Empfänger kein Verband sein durfte. Verbände unterstehen in Ecuador der Aufsichtsbehörde für Öffentliche und Solidarische Wirtschaft. Witoca gründete daraufhin eine Aktiengesellschaft (Sociedad por Acciones Simplificada – SAS), die der Aufsichtsbehörde für Gesellschaften untersteht. Die ursprüngliche Partnerschaftsgruppe, der Witoca-Stamm, wurde beibehalten, nur die Rechtsform wurde geändert. Die Unternehmensgründung ist weder puristisch noch essentialistisch ausgerichtet: Es geht nicht um Bündnisse zwischen „Einheimischen“ oder „SiedlerInnen“ oder „EcuadorianerInnen“ oder „AusländerInnen“, sondern um Allianzen zwischen Individuen, Familien und Gemeinschaften, die sich auf unterschiedliche Weise definieren. Was sie gemeinsam haben, ist die Überzeugung, dass Chakras und Biounternehmen eine wirksame Alternative zum extraktivistischen Rohstoffabbau darstellen, der keine Weiterverarbeitung in der Region vorsieht und zu mehr Armut und Umweltzerstörung geführt hat.

Eine Chakra-Bibliothek. Im Jahr 2020 trat Lucía Chávez dem Witoca-Team bei und übernahm die Leitung des „Club Huaticocha Lee“, eines Lese-, Kunst- und Englisch-Lernclubs für die Kinder aller Mitglieder. So entstand aus dem Biounternehmen eine Bildungseinrichtung. Lucía gab den Kindern Kochkurse in englischer Sprache, las ihnen aus Büchern vor und weckte in ihnen die Lust am Lernen. Dieses Bildungsprojekt wurde erweitert. In Zusammenarbeit mit dem Verband der Kichwa-Gemeinden von Loreto bildet es nun Parkranger aus. Lucía hat sich zu einer wichtigen Unterstützerin für Witoca entwickelt: Sie ist kreativ, charismatisch und besitzt zudem die Fähigkeit, Kontakte zu potenziellen Partnern auf der ganzen Welt zu knüpfen und Geldmittel zu beschaffen. Auch ich habe Witoca durch Lucía kennengelernt. Wir begegneten einander in New Haven, einem wichtigen Zentrum ecuadorianischer Einwanderer, wo Lucía den Robusta-Kaffee der Chakras anpries. Bei meiner nächsten Reise in die Stadt Coca beschloss ich, einen Zwischenstopp in Huaticocha einzulegen. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade dabei, ein Forschungsseminar mit dem Titel „Kollektive Architekturen“ (Architectures of the Collective) für die Yale School of Architecture zu konzipieren, das im Herbst 2021 gehalten werden sollte. Wir konnten nicht reisen, aber während der Pandemie haben wir gelernt, dass man auch dann vieles schaffen kann, wenn die Zusammenarbeit allein aus der Ferne stattfindet. Die Studierenden arbeiteten in Gruppen an fünf potenziellen Projekten mit fünf Gemeinschaften aus der Amazonasregion. Was ich an dieser Stelle hervorheben möchte: Die Arbeit wurde an der Universität durchgeführt und trug vor Ort in der Region Früchte. Ich bin davon überzeugt, dass der kollaborativen angewandten Forschung oder Aktionsforschung (Collaborative Action Research) eine grundlegende Rolle bei der Konzeption von kollektiven Designprojekten und -aktionen zukommt, die sich nicht auf die Vermittlung von Kontakten zwischen EntwerferInnen und AuftraggeberInnen (privat oder öffentlich) beschränkt, sondern die Schaffung synergetischer solidarischer Netzwerke gegenseitiger Unterstützung mit gemeinsamen Zielen beinhaltet, die über die traditionelle Projektion der Architektur durch das Gewerbe hinausgehen. Zugleich hat sie bedeutenden Anteil an kollektiven Projekten, die reich an Humanressourcen sind, aber wenig Zugang zu öffentlichen oder privaten Geldern haben. Die Beschaffung von Finanzmitteln entwickelt sich zu einer der Hauptaufgaben von Architekturkollektiven, und die Universität hat wiederum die Möglichkeit, sie in der Phase der Projektgenerierung/Konzeptualisierung und beim Aufbau von Netzwerken zu unterstützen. Die Hochschule fungiert in diesem Fall als Partner der Gemeinschaft.
Die Studierenden Yuyi Zhou und Huy Truong arbeiteten während des gesamten Semesters mit Esteban Benavides vom Kollektiv Al Borde zusammen. Lucía, Andrea und Fabio waren ihre Hauptansprechpartner bei der gemeinsamen Ausarbeitung eines Designentwurfs für eine „Mehrzweckbibliothek in der Chakra“. Das Projekt wurde als agrarökologische Bildungseinrichtung für die Familien der Genossenschaftsmitglieder und ihrer Nachbarn konzipiert. Die dem Raum zugedachte Funktion geht über jegliche Vorstellung von Funktionalität, Unterteilung nach Bereichen, „architektonischer Begrenzung“ und die Binarität von Innen und Außen hinaus: Die Kinder besuchen die Bibliothek, und die Bibliothek geht dorthin, wo sich die Kinder aufhalten. Das System ist in ständiger Bewegung. Wie jede andere Ressource zirkulieren die Bücher, werden unter Verwandten und Freunden geteilt. Die Ausgangsidee für die Gestaltung des Entwurfs war, dass der Boden ein lebendiges Wesen und die Trennung zwischen dem „Natürlichen“ und dem „Künstlichen“ eine Illusion ist. Die Chakra-Bibliothek wurde als ein Mehrzweckraum konzipiert, der wie eine Maloca, ein Gemeinschaftshaus, offen ist und eine weitere Manifestation der Chakra darstellt.



Für die formale Gestaltung diente vor allem die traditionelle Architektur der Kichwa Napo Runa als wichtigstes Vorbild: strohgedeckte Dächer, die den Regen ableiten und Schatten spenden. Eine der größten Herausforderungen bestand darin, sich vorzustellen, wie der Lebenszyklus des Strohs, das zur Abdeckung der Strukturen geflochten wird, verlängert werden kann. In Witoca ist man sich bewusst, dass diese Art von Architektur eine gewisse Pflege erfordert: Die Blätter halten vermutlich ein Jahrzehnt oder länger, wobei die Reparatur und der Austausch der Blätterschicht die Gelegenheit für neue Mingas [Arbeitsprojekte in der Gemeinde] bieten.

Yuyarina Pacha – Ein Ort zum Nachdenken. Im Jahr 2022 bewarben sich Witoca, Al Borde und das YSoA beim Innovationswettbewerb für nachhaltiges Bauen der Internationalen Bambus- und Rattanorganisation INBAR. Leider wurde das Projekt nicht ausgewählt, doch Al Borde gab nicht auf. Bei der Ausschreibung des Fonds für traditionelle Architektur des Nationalen Instituts für das kulturelle Erbe Ecuadors bekam El Borde die Förderung zugesprochen. Damit konnte Witocas Traum wahr werden. Mit beispielhafter Bescheidenheit erzählt mir Esteban Benavides, der eng in das Architektur- und Bauprojekt eingebunden war, wieviel er und alle MitarbeiterInnen von Al Borde dabei gelernt haben. Das Kollektiv arbeitete mit qualifizierten Zimmerleuten aus verschiedenen Kichwa-Napo-Runa-Gemeinschaften zusammen, die über ausreichend technisches Wissen und Bauerfahrung verfügten, um die im Laufe der Jahre entstandene Vision zu verwirklichen. Für Esteban wurde deutlich, dass es im Amazonasgebiet „viele Gleichgesinnte gibt, die sich über große Landstriche erstrecken“, es besteht ein Netzwerk aus traditioneller Verwandtschaft (im wörtlichen und im übertragenen Sinne) und regionalem Austausch: ein multi-ethnisches, zeitgenössisches Ayllu, eine örtlich erweiterte Großfamilie, dem Mestizen, Indigene und Menschen afrikanisch-indigener Abstammung angehören. Die regionalen Netzwerke des Amazonasgebiets sind uralt und bestehen heute in verschiedenen Formen fort. Das Flechten des Toquilla-Strohdachs für das Dach der Bibliothek war eine Herausforderung, die deutlich machte, wie sich die Gemeinschaften im Amazonasgebiet sozial und wirtschaflich organisieren. Mit Hilfe digitaler Plattformen riefen die Partner von Witoca alle Gemeinden der Umgebung auf, ihr Toquilla-Stroh an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit auf die Straße zu bringen, und gaben an, wieviel sie für eine bestimmte Menge Toquilla-Stroh zu zahlen bereit wären. Anschließend holten sie das benötigte Stroh mit einem Lastwagen ab und bezahlten. Esteban stellt fest, dass „die mestizische Identität im ecuadorianischen Amazonasgebiet direkt mit der indigenen Welt verbunden ist. Hier sind es keine getrennten Welten wie im Hochland. Dort sind die Identitäten weiter voneinander entfernt, besser gesagt, die eine wurde der anderen untergeordnet. Sie stehen zueinander in einem ausgeprägten Machtverhältnis, dem von Diener und Herrscher. Hier im Amazonasgebiet ist das anders.“

Esteban erzählt mir, dass die Frage der Identität im Mittelpunkt des Projekts stand: „In unseren Gesprächen befassten wir uns mit den Identitäten, die auf das ecuadorianische Amazonasgebiet projiziert werden: Da ist die folkloristische, die mystische Identität, wie man sie vielleicht aus Filmen kennt; die andere ist eine modernisierte Identität, die von Verstädterung geprägt ist. Wir fühlten uns von keiner dieser beiden Varianten angezogen. Uns interessierte die Amazonasregion des Jahres 2024, die weder das eine noch das andere repräsentiert. Was uns reizt, ist die Idee von Gemeinschaft, die dort herrscht, weil sie pragmatisch, kreativ und wirtschaftlich sinnvoll ist. Nützlich, aber nicht utilitaristisch.

Das Holz stammt aus verschiedenen Chakras in der Umgebung. Die Chontas wurden in Gruppen transportiert, fast nie mit Maschinen, weil man mit ihnen nicht in die Chakras hineingelangen konnte. Deshalb war es wichtig, Material aus der Nähe zu verarbeiten, deshalb bauen die Menschen der Amazonasregion ihre Einrichtungen dort, wo sie gebraucht werden. Die Arbeit in der Gemeinschaft war der effektivste Weg, um die Ressourcen des Waldes, der Chakras, zu nutzen. Wir mussten die Logik des Ortes verstehen und lernen, mit Chonta, Stroh, Toquilla und verschiedenen lokalen Gehölzen zu arbeiten. Wir lernten, wie die Bausysteme funktionierten, lernten die Prinzipien ihrer Logik kennen, und so entwarfen wir neue mestizajes, neue Mischformen.“

Es dauert dreißig Jahre, bis ein Chonta gewachsen ist, und jedes Chonta wird auf dem Markt für zehn US-Dollar verkauft. Wer von den Erträgen des Waldes profitiert, ist in der Regel der Zwischenhändler. Ideal wäre eine Wertschöpfung an Ort und Stelle, wie es Witoca mit anderen Produkten handhabt, und eine Anreizpolitik zur gemeinsamen Entwicklung von Biomaterialien für die Schaffung regenerativer Systeme und Architekturen wie der Chakra. Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Wissenschaft, die ArchitektInnen und ihre Gremien eine weitere grundlegende Rolle spielen und spielen sollen, und zwar bei der Erforschung der Eigenschaften und Merkmale von Materialien wie Chonta. Mit Hilfe ihrer Arbeit können Bauvorgaben für Chonta und andere tropische Materialien entwickelt werden, so dass sie beispielsweise in städtischen Wohnungsbauprogrammen in der Region angewendet werden können. Die Chonta liefert Nahrungsmittel (Palmmark, Saatgut, Palmfrucht und Chontacuro[5]), Baumaterial und Grundstoffe für Kunsthandwerk (Gestelle, Speere, Nadeln und andere Objekte), sie hat medizinische Eigenschaften und dient als Zierpflanze. Die landwirtschaftliche Artenvielfalt des Amazonasgebiets ist beispiellos, und Ecuador ist in dieser Hinsicht reich gesegnet. Obwohl es zu den kleinsten Ländern Südamerikas zählt, gehört es weltweit zu den zehn Ländern mit der größten biologischen Vielfalt. Laut Renato Valencia und Rommel Montúfar gibt es im gesamten Amazonasgebiet 200 Palmenarten, von denen 136 in Ecuador vorkommen, „einem viel begrenzteren, aber geografisch komplexeren Raum“.[6]

Yuyarina Pacha ist ein bauliches Experiment, das einen wichtigen Beitrag in diese Richtung leistet. Für die Hauptsäulen wurden die Chonta verwendet, deren Stamm eine Höhe von neun Metern erreicht. Da sie im Inneren weich und weniger dicht ist, wurde der Stamm in zwei Hälften geschnitten und ausgehöhlt, um ihn beim Bau zu verwenden. Esteban erfuhr von Meister Ramiro Ávila Santamaría, dass die Chonta zehn Jahre lang hält, ohne zu verrotten, selbst wenn sie ohne Schutz in den Boden gesteckt wird. Jetzt, da die Architektur einer stärkeren Sesshaftigkeit genügen und folglich länger halten muss, ist es wichtig, über hybride Ansätze nachzudenken und neue Mischformen zu schaffen. Um den Dachfirst zu schützen, hat Al Borde zum Beispiel ein Glasdach entworfen. Für das Kollektiv war es neu zu erfahren, dass die Fasern am First und in den Dachrinnen schneller verrotten, weil sich dort das Wasser konzentriert. Außerdem trocknen die Pflanzen an diesen Stellen weniger schnell.
Die Bibliothek wurde so konstruiert, dass im inneren ein kubisch geformter offener Raum entsteht. Um den Innenkubus herum wurde der innenliegende Korridor gebaut. Die Balken sind aus verschiedenen Hölzern gefertigt, darunter Chuncho, auch bekannt als Seike. Die Stämme werden bis zu 40 Meter hoch. Für die Struktur wurden verschiedene Holzarten verwendet, „ein Verbund aus dem, was die Umgebung zu bieten hat. Wenn ein Baum umgefallen ist, wird er verarbeitet“, erklärt Esteban.



„Ein umgestürzter Baum kann mehrere Jahre lang im Wald liegen. Er ist eine Reserve. Für die seitlichen Gerüstteile verwenden wir Pigüe, das sehr schnell und gerade wächst wie ein Eukalyptus, aber weniger Widerstandskraft und Dichte bietet. Das Holz ist rund und kann bis zu 12 Meter lang werden. Für die Terrassendielen haben wir verwendet, was verfügbar war, genau wie bei dem Grundgerüst. Die Böden sind ein Mosaik aus Hölzern mit unterschiedlichen Maserungen und Farbtönen. Für die Fundamente haben wir Zyklopenbeton verwendet: auch ein Hybrid.“ Die Bibliothek von Witoca ist ein echtes Lehrstück der effizienten und ressourcenschonenden Nutzung lokaler Rohstoffe. Die erfolgreiche Fertigstellung verdankt sich den Experimenten vor Ort, der Entwicklung hybrider Prototypen und dem Einfallsreichtum bei den Konstruktionsdetails, insbesondere bei der Kunst – wie Esteban es ausdrückt – „Materialien zu verbinden, die zuvor nie miteinander verbunden waren.“

Zur Abdeckung der großen Dächer wurde Guadua-Rohr im lokalen Stil verwendet. Dabei wird das Toquilla-Stroh in die parallel verlaufenden Linien eingearbeitet. Dazu Esteban: „Bei diesen Arbeiten summieren sich die Fehler. Die Verbindungen sind nicht exakt, und diese Abweichungen beeinträchtigen die Ästhetik des Projekts. Vor allem von innen heraus bestimmt es den strukturellen Ausdruck des Gerüsts. Al Borde hat versucht, aus Wartungsgründen ein Material zu finden, das das Toquilla-Strohgeflecht ersetzen könnte: Die Holzstruktur hält zwischen vierzig und fünfzig Jahren, die Dachabdeckung hingegen muss alle zehn Jahre erneuert werden.“ Es sei jedoch schwer, etwas zu finden, das mit den vorteilhaften Eigenschaften des Strohs mithalten kann. „Diese Dächer leben“, räumt Esteban ein, „wir verstärken sie mit Geomembranen.“
Al Borde ist sich bewusst, dass die Architektur nur die oberste Spitze einer Pyramide sozialer Veränderungen ist, die ich hier versucht habe auf wenigen Seiten zusammenzufassen. Diese reichen jedoch bei weitem nicht aus, um der Komplexität der Umstände gerecht zu werden, mit denen die BewohnerInnen des Amazonasgebiets konfrontiert sind. Witoca ist ein deutliches Beispiel für die Synergien und Affinitäten, die innerhalb eines organisierten Netzwerks aus Gemeinschaften, staatlicher Politik, Vorschlägen von Stiftungen oder NGOs, Architekturkollektiven und Universitäten entstehen können. Wenn eine Gesellschaft Veränderungen anstrebt und gestaltet, können ArchitektInnen, nicht nur technische Antworten geben, sondern mit Materialien, Texturen und Formen die Symbole und ästhetischen Manifestationen neu entstandener, neu formulierter oder neu gestalteter Identitäten veranschaulichen – vorausgesetzt, sie sind wie Al Borde bereit und in der Lage, mit den Menschen zusammenzuarbeiten. Den von Witoca durchlaufenen Prozess der Identitätsforschung hat Al Borde mit „unserer Logik, unserer Ästhetik, unseren Materialien, unserem Denken“ aufgegriffen.

Übersetzung aus dem Spanischen: David Fenske
[1] Der Begriff chakra (alternative Schreibweisen: chajra, chagra) stammt aus dem Quechua und wird in Lateinamerika üblicherweise als Bezeichnung für einen kleinen Garten, eine Gartenbauparzelle oder einen Bauernhof verwendet. Im Gegensatz zu seiner Bedeutung im spanisch-sprachigen Kontext wird in diesem Artikel das Wort „Chakra“ als Polykultursystem verwendet. Wenn die Kichwa Runa von Chakra sprechen, meinen sie ein agrarökologisches Anbausystem, das bestimmten Prinzipien folgt. Diese orientieren sich an der Logik des Regenwalds und bringen eine Reihe von verschiedenen miteinander verbundenen Pflanzen- und Tierarten zusammen. Im Durchschnitt enthalten die Chakras zwischen 50 und 75 „nützliche“ Arten und umfassen im Durchschnitt etwa 3,5 Hektar Land. Die Völker des Amazonas gehen keine nutzenbasierte Beziehung zu ihren Chakras ein, die für sie fühlende und denkende Wesen sind. Um mit den Worten der Künstlerin K‘alina Manuwi Tokai zu sprechen: „Chakras sind durchdrungen von einem zutiefst heiligen Intellekt, mit dem sie durch Lieder kommunizieren.“
[2] Institut für Agrarreform und Besiedlung
[3] Dieses Zitat sowie alle nachfolgenden Zitate von Projektbeteiligten stammen aus persönlichen Gesprächen mit der Autorin.
[4] Der Begriff „mestizo/mestiza“ wird in Lateinamerika üblicherweise verwendet, um Menschen zu bezeichnen, die aus der Vermischung der indigenen Bevölkerung mit Menschen von der Iberischen Halbinsel und aus Afrika stammen. Diese Mestizisierung oder „Vermischung“ ist das Ergebnis der europäischen Kolonisierung in der Region, die wir heute als Lateinamerika kennen. In den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts gingen sie einerseits aus den Allianzen hervor, die spanische Kapitäne durch Heirat mit den Töchtern lokaler Kaziken eingingen. Zum anderen kamen sie im Zuge gewaltsamer Eroberungsbeziehungen zur Welt, denn die siegreichen Allianzen behandelten Frauen als Kriegsbeute. Von Anfang an war die Mestizisierung mit einem Prozess der Blanqueamiento („Unterdrückung indigener oder afrikanischer rassischer und kultureller Merkmale“), der Selbstverleugnung und sogar rassistisch motivierter Selbstverachtung verbunden, da Mestizen keinen Zugang zu den Privilegien hatten, die den Europäern vorbehalten waren.
[5] Chontacuros sind Larven, die im ecuadorianischen Amazonasgebiet geräuchert, geröstet oder roh gegessen werden.
[6] Valencia, Renato/Montúfar, Rommel: “Diversidad y endemismu”, in: Valencia, Renato/ Montúfar, Rommel/ Navarrete, Hugo/Balslev, Henrik (Hg): Palmas Ecuatorianas: Biología y uso sostenible, Quito 2013, 3–16, hier 3.