Das Tempo, mit dem wir uns von der Natur abgekoppelt haben, ist alarmierend. Diese Abkoppelung scheint mit der Vorstellung verbunden zu sein, alle Ressourcen und natürlichen Systeme seien Allgemeingut, leicht verfügbar, um den steigenden Anforderungen, die wir Menschen haben könnten, gerecht zu werden, obwohl jene unsere heutigen Bedürfnisse im Hinblick auf unsere Existenz und unser Gedeihen bei Weitem übersteigen. Die Folgen solcher Einstellungen und Perspektiven sind mit Händen greifbar. Vielleicht sehen, spüren und leiden wir zum ersten Mal gemeinsam unter den Auswirkungen einer Umweltkrise, die mehrere Bereiche betrifft. Die bebaute Umwelt trägt offensichtlich massiv zu den Emissionen der globalen Erwärmung bei[1] und durchdringt jeden Aspekt des menschlichen Lebens. Vielleicht ist es gerade deshalb so schwierig, über die inhärenten Mängel gebauter Räume für die Gesundheit der Welt nachzudenken, weil jene so eng mit unserer Existenz verbunden sind. ArchitektInnen und PlanerInnen müssen diese Strukturen jedoch von Beginn des Entstehungsprozesses an berücksichtigen. Was manche als Privileg und als Beweis für die Wertigkeit des Berufs ansehen, bringt in Wirklichkeit eine enorme Verantwortung mit sich. Die berühmten Ansichten des österreichischen Designers Victor Papanek sind nach wie vor aktuell: „[Der Designer] muss die Vergangenheit sowie die vorhersehbaren zukünftigen Folgen seiner Handlungen analysieren.“[2]
Trotz der Bedeutung der obigen Diskussion und ihrer Verankerung in relevanten Anliegen, die (fast) jeder Mensch teilt, sollte man nicht versuchen, Schuld zuzuweisen oder noch mehr Verzweiflung über die Umwelt zu schüren. Diese Ausgabe von GAM wurde mit dem Ziel konzipiert, revolutionäre und lösungsorientierte Initiativen zu identifizieren. Tatsächlich sollten sich alle am Bau beteiligten AkteurInnen verpflichtet fühlen, mutige Veränderungen und Perspektiven vorzuschlagen, die zu einer völlig neuen Interpretation des „Bauens“ beitragen, anstatt sich ausschließlich auf die Schadensminderung und -kontrolle zu konzentrieren. Aber die Planung so zu überdenken, dass eine Wiederverbindung mit der natürlichen Umwelt möglich wird, ist eine grundlegende Frage, die tiefgreifende Überlegungen erfordert. Wie kann man die seit langem bestehenden Grenzen zwischen vom Menschen geschaffenen Räumen und der Natur neu bewerten? Die Idee, natürliche Rhythmen im städtischen Leben wiederherzustellen und die Gesellschaft im Einklang mit dem „Windfluss“ zu halten, wie es Chrisna du Plessis formuliert hat,[3] wurde in akademischen Kreisen zu lange belächelt oder abgetan – zu unserem eigenen Verderben. Auf den folgenden Seiten werden die LeserInnen zwar keine allgemeingültige Patentlösung für die Umweltkrise finden, aber er oder sie darf eine ehrliche Betrachtung der Wechselwirkung zwischen gebauten und natürlichen Räumen erwarten, welche das so oft ignorierte Wissen indigener Völker einbezieht.
Diese Ausgabe von GAM ist in vier Hauptkapitel unterteilt. Im ersten Kapitel mit dem Titel „Nachdenken“ gibt ein aufschlussreiches Interview mit dem brasilianischen Philosophen und führender Kopf der indigenen Bewegung Ailton Krenak den Ton für die Perspektive an, die man beim Lesen der folgenden Kapitel einnehmen sollte. Das von Romullo Baratto geführte Interview stellt Krenaks Werk vor, das auf seinem integrativen Verständnis der Welt beruht, in der es keine Grenzen zwischen allem gibt, was in ihr lebt. Auf dieses anregende Gespräch folgt Bas Princens fotografischer Essay mit Bildern von der Rohstoffgewinnung, in denen die Wechselwirkungen zwischen Erde und Künstlichkeit untersucht werden. Sie konzentrieren sich auf die Reibung zwischen gestalteten Oberflächen und „natürlicher“ Landschaft und stellen so eine symbiotische Rückbindung an Ailtons Beitrag dar.
Die folgenden Kapitel bieten unterschiedliche Perspektiven auf die dringend notwendige Konfrontation, die im Titel dieser Ausgabe, sowie im vorherigen Kapitel gefordert wird. In „Calculating“ führen uns Greg Foliente, Carlos Enrique Caballero-Güereca und Nicolas Alaux durch den aktuellen Kenntnisstand zu wissenschaftlich fundierten CO2-Zielen und -Budgets, die mit den Belastungsgrenzen des Planeten vereinbar sind, und veranschaulichen dabei die damit verbundene Rolle und die Auswirkungen auf den Bau- und Immobiliensektor. Ida Karlsson veranschaulicht nachfolgend eine Schätzung des CO2-Budgets eines Landes, indem sie wichtige Akteure und ihre Rolle bei der Erreichung einer drastischen CO2-Reduzierung im Bauwesen identifiziert.
Das darauffolgende Kapitel mit dem Titel „Bauen“ besteht aus Praxisvorschlägen, die zu einem Perspektivwechsel anregen und bestätigen, dass alternative Bauansätze auf verschiedenen Ebenen Wirkung zeigen können. Ana María Durán Calisto präsentiert ein ausgesprochen inspirierendes Beispiel für regeneratives Design in seiner besten Form: Yuyarina Pacha, eine Mehrzweckbibliothek im Herzen eines „Chakras“ im ecuadorianischen Amazonasgebiet. Die Bibliothek wurde von Anfang an als integrierter, lebendiger Teil der lokalen Umgebung konzipiert und beruht auf einem tiefen Verständnis des Gleichgewichts zwischen den Bedürfnissen der Gemeinschaft und den Ressourcen des Ökosystems. Im Anschluss plädieren Guillaume Habert, Verena Göswein, Olga Beatrice Carcassi und Francesco Pittau für eine „Materialdiät“, die von der Ernährungspyramide inspiriert ist und eine innovative und umweltfreundliche Möglichkeit aufzeigt, die Materialauswahl im Design zu interpretieren. Anschließend analysieren Monica Lavagna, Bernardette Soust-Verdaguer, Elisabetta Palumbo und Antonio García Martínez verschiedene Entwurfsstrategien in mediterranen Regionen, die von der Tradition der einheimischen Architektur inspiriert sind, aber dennoch den Anforderungen der Zukunft gerecht werden, wenn es um die Bewältigung ökologischer Herausforderungen geht. Philippe Rahm gibt Einblicke in Projekte, bei denen neue Prinzipien der architektonischen Gestaltung aus dem eigentlichen Ziel der Reduzierung des betrieblichen Energieverbrauchs abgeleitet werden. Seine Entwürfe orientieren sich an physikalischen Konzepten der Energieübertragung und stellen konventionelle Vorstellungen von thermischer Behaglichkeit in Frage, indem sie auf die potenzielle Verringerung der Umweltbelastung hinweisen, die durch eine einfache kulturelle Veränderung des individuellen Verhaltens erreicht werden könnte. Klaus K. Loenhart zeigt anhand der Fallstudie des Hauptsitzes von Grüne Erde, wie biometeorologisches Design funktioniert, und stellt naturbasierte Lösungen für die architektonische Gestaltung vor.
Das letzte Kapitel dieser Ausgabe trägt den Titel „Leitfaden“ – in Anerkennung der wichtigen Rolle, die Bildungseinrichtungen und Berufsverbände bei der Bereitstellung der Instrumente für einen massiven Perspektivwechsel spielen. Alice Moncaster eröffnet das Kapitel mit einer Untersuchung der Rolle des Royal Institute of British Architects (RIBA) bei der Förderung der ökologischen Nachhaltigkeit unter ArchitektInnen, hervorgehoben durch das RIBA-Programm „Horizons 2034: The Environmental Challenge“.
Vanessa Gomes und Matt Roberts diskutieren im Anschluss daran die notwendige Veränderung in der Architekturlehre, die durch aktuelle pädagogische Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und Brasilien veranschaulicht wird, und unterbreiten Vorschläge für zukünftige Lehrstrategien. Danach gibt Stefano Corbo Einblicke in „Resilience-by-Design“, ein pädagogisches Modell, das an der Fakultät für Architektur der Technischen Universität Delft innerhalb der Public Building Group umgesetzt wird. Zu guter Letzt erörtert Sabine Hansmann einen pädagogischen Ansatz zu soziomaterielle Aspekte in der Architektur. Sie denkt nicht nur darüber nach, wie Lehrkräfte das Verständnis der Studierenden für die Rolle der Architektur im weiteren ökologischen System verbessern können, sondern auch, wie sie ihnen Werkzeuge an die Hand geben können, um zu einer nachhaltigeren und gerechteren gebauten Umwelt beizutragen.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass es keine Blaupause gibt, die uns den Weg zu einer ökologischen Revolution weisen könnte. Die Tatsache, dass diese Ausgabe zahlreiche Beiträge mit Ideen aus pädagogischer Sicht enthält, ist ein Hinweis darauf, wie wichtig es ist, die Ausbildungsgrundlagen für eine neue Auffassung dessen, was ein „Gebäude“ ist oder sein sollte, zu überdenken und neu auszurichten. Das Fehlen eindeutiger Antworten auf die letztgenannte Frage sollte als Anreiz gesehen werden. Das Unbekannte mag Verzweiflung hervorrufen, doch es gibt auch unzählige Möglichkeiten. Solange wir anerkennen – nicht nur mit Worten oder als Werbestrategie, sondern kulturell anerkennen –, dass „wir ebenso singuläres Medium wie Umwelt [sind]“, wie Krenak es im Gespräch mit Romullo Baratto ausdrückt. Die in dieser Ausgabe von GAM veröffentlichten Beiträge zeigen, dass ein Wandel auf allen Ebenen möglich ist und schnell und in allen Bereichen umgesetzt werden muss. Wenn wir nicht handeln, wird es nie zu einem Wandel kommen.
Übersetzung: Nikolaus G. Schneider
[1] In allen in dieser Ausgabe von GAM veröffentlichten Artikeln finden die LeserInnen verschiedene Hinweise und Anspielungen auf „Kohlenstoff“ und „Klima“. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es wichtig, die Unterschiede zwischen elementarem Kohlenstoff, CO2, Treibhausgasen (THG) und den Klimaauswirkungen aller drei zu beachten. Kohlenstoff kann als chemisches Element viele Formen annehmen. Wenn auf diesen Seiten von Kohlenstoff die Rede ist, bezieht sich dies entweder auf CO2 oder auf THG. CO2 ist eines der Treibhausgase, die zum Klimawandel beitragen, zusammen mit Methan (CH4), Distickstoffmonoxid (N2O) und fluorierten Gasen. CO2eq oder CO2e ist eine Maßeinheit, die verwendet wird, um die Erwärmungseffizienz jedes Treibhausgases zu vergleichen, oder, mit anderen Worten, ihren Beitrag zum Klimawandel, was eine umfassendere Bewertung der Auswirkungen verschiedener Emissionen ermöglicht.
[2] Papanek, Victor: Design for the Real World: Human Ecology and Social Change, New York 1971, 107.
[3] du Plessis, Chrisna: „Regenerative Cities: Co-Evolving with Our Planet“, Urbanet, 9. Februar 2021, www.urbanet.info/co-evolving-with-planet (27. März 2025).