Unité d’Habitation, Westfassade, Blick von der Avenue de Mazargues | western façade, view from the Avenue de Mazargues © Thomas Meinecke
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„Es ist kein Denkmal, das nur in seiner Denkmalhaftigkeit dasteht“

Thomas Meinecke (TM) im Gespräch mit Julian Müller (GAM)

Thomas Meinecke ist Schriftsteller, Musiker und DJ. Während seines Studiums der Theaterwissenschaft und Neueren Deutschen Literatur in München gründete er die Literaturzeitschrift Mode und Verzweiflung, aus der die Band F.S.K. (Freiwillige Selbstkontrolle) hervorging. Seit 1986 hat er zahlreiche Erzählungen, Hörspiele und Romane veröffentlicht, darunter Tomboy (1998), Lookalikes (2011) und Selbst (2016), und mehrere Literaturpreise gewonnen. 2022 hat Thomas Meinecke seinen Wohnsitz nach Marseille verlegt und bewohnt seitdem eine der 337 Wohnungen in der von Le Corbusier von 1945 bis 1952 entworfenen Unité d’Habitation. Julian Müller hat mit ihm über den Alltag in der historisch bedeutsamen Wohnanlage gesprochen.

GAM: Wir haben uns vor einiger Zeit bei einer Veranstaltung getroffen, und in der Kaffeepause hast du mir erzählt, dass du kürzlich nach Marseille gezogen bist und seitdem in der Unité d’Habitation wohnst. Erzähl mir doch zunächst mal, wie es dich dorthin verschlagen hat …

TM: Das erste Mal gesehen habe ich das Haus, als ich mit meiner Frau, Michaela Melián, auf einer Radtour durch Frankreich war. Wir rasten aus den Calanques-Bergen in die Stadt runter und sahen auf einmal völlig unvorbereitet durch die Bäume hindurch dieses Haus aufblitzen, diese Architektur, die man ja irgendwie schon kannte, weil sie sich so sehr in das allgemeine Bewusstsein eingeschrieben hat. Wir hatten an dem Tag allerdings gar nicht die Zeit und die Muße anzuhalten, weil wir noch eine ziemliche Strecke vor uns hatten. Das war jedenfalls die erste Begegnung mit dem Haus, das ich bis dahin auch nur von Abbildungen kannte. Und vor ungefähr fünfzehn Jahren stand ich dann zum ersten Mal auf dem Dach des Gebäudes. Freunde von uns lebten da, und so kamen wir in das Haus hinein. Und dieses Dach hat uns absolut fasziniert, ja, ergriffen geradezu. Wir standen da oben und hatten Tränen in den Augen. Man spürte irgendwie, dass da etwas erzählt wird von einer besseren Welt, die dann aber doch nicht kommt. Und aus dieser Diskrepanz zwischen dem, was man sieht, und dem, was dann doch nicht eingetroffen ist, ergab sich irgendwie so ein Gefühl, das sich manchmal auch beim Hören von Musik in ihrer nonverbalen, visionären Kraft einstellt. Und von da an war das eigentlich unser Traumhaus.

Gemeinschaftsräume in den Erschließungszonen © Thomas Meinecke

GAM: Wie seid ihr dann von BesucherInnen, die ergriffen auf dem Dach standen, zu BewohnerInnen des Hauses geworden?

TM: Vor einiger Zeit ist mein Vater gestorben, weswegen ich das Haus meiner Eltern verkauft habe. Lustigerweise gab es auch in meinem Elternhaus eine gewisse Affinität zu dem, was die Unité d’Habitation symbolisiert. Meine Eltern waren Anhänger einer doch sehr französelnden Modernität. Sie hörten gerne französische Pop-Musik und Modern Jazz, wir haben unsere Sommerurlaube an der französischen Riviera verbracht, mein Vater fuhr Citroën DS, es stand auch ein Corbusier-Sessel im Wohnzimmer. Und mit dem Verkauf des Hauses meiner Eltern hatte ich auf einmal mitten in der Pandemie Geld. Und da ich nicht der Typ bin, der mit Geld gerne auf irgendwelchen Märkten rumjongliert, haben meine Frau und ich überlegt, wo wir denn gerne noch wohnen würden. Wir leben ja in einem oberbayerischen Dorf mit 100 EinwohnerInnen, und das ist auch sehr schön dort, aber urban ist es da natürlich nicht. Also sind wir im Kopf verschiedene Städte durchgegangen: Neapel war dabei, Barcelona war dabei, aber eben auch Marseille.

GAM: Aber wie kommt man dann an eine Wohnung in der Unité d’Habitation? Ist das nicht wahnsinnig schwer?

TM: Das war schon ein ziemliches Glück. Die meisten freien Wohnungen gehen ja gar nicht auf den Immobilienmarkt, sondern werden über Mundpropaganda im Haus weitergegeben. Die Leute, die da wohnen, mögen das Haus wirklich sehr gerne und wohnen zum Teil schon in dritter Generation dort. Jedenfalls hatte der Vormieter die Wohnung vor einigen Jahren aus erster Hand übernommen und auch sehr aufwendig renoviert – allerdings nicht immer ganz nach den Vorschriften, die man mit Le Corbusier verbindet. Zum Beispiel hat er die Küche umgebaut. Du musst wissen, dass die Küchen wirklich sehr klein sind. Das hat schon fast etwas Klaustrophobisches. Wenn man dazu bei Le Corbusier nachliest, dann sollte sich „die Frau“ seiner Vorstellung nach in dieser Küche nur einmal um sich selbst drehen müssen, um an alles zu gelangen. Aber die Frau war eben auch auf eine Art in der Küche gefangen – so hart muss man es schon sagen. Jedenfalls hat wohl die Frau des Vormieters eine schwarze steinerne Küche – übrigens aus Stuttgart – einbauen lassen, die nicht so ganz nach unserem Geschmack ist. Trotzdem soll es dieser Frau in der Wohnung nicht mehr gefallen haben, so ist zumindest die Legende. Und weil dem neuen Besitzer es wohl peinlich war, die Wohnung nach dieser aufwendigen Renovierung letztlich gar nicht zu beziehen, wurde die Wohnung nicht im Haus weitergegeben, sondern gelangte auf den freien Markt. Und genau an dem Tag, als die Anzeige online geschaltet wurde, saß ich vor dem Computer und habe mal wieder nach Wohnungen in diesem Gebäude geschaut. Das war alles ein großer Zufall. Wir sind ja nicht mal angereist, um die Wohnung zu besichtigen – es war ja gerade die Hochphase der Covid-19-Pandemie –, sondern haben die Wohnung nur auf Grundlage einer WhatsApp-Führung gekauft. Und seitdem leben wir dort. Es ist aber schon so, dass ich ab und zu im Fahrstuhl gefragt werde, wie es uns da eigentlich hin verschlagen hätte, wie ausgerechnet zwei Deutsche hier eine Wohnung bekommen hätten.

Ausblick in Richtung Westen zum Meer © Thomas Meinecke

GAM: Du hast gesagt, dass du die Unité d’Habitation bereits kanntest, bevor du zum ersten Mal dort warst. Sie ist, wie du es eben genannt hast, Teil eines allgemeinen Bewusstseins. In deinen Romanen thematisierst du immer wieder das Ikonische, vor allem Ikonen der Popkultur. Nimmst du das Haus auch als eine Ikone wahr?

TM: Wir nehmen das Haus schon als Ikone wahr. Man staunt eigentlich jeden Tag aufs Neue über irgendwelche Löcher und Luftdüsen in den Wänden. Und fragt sich, wo eigentlich die Luft herkommt und wieso man die Nachbarn nie hört. Die Inspiration für Le Corbusiers Bauprinzip der Unité d’Habitation war ja ein Flaschenregal. Das Haus ist also eine Art Regal aus Beton, in dem dann aber Wohnungen aus Holz stecken. Das unterscheidet die Unité d’Habitation in Marseille etwa auch von der in Berlin. Man geht also den ganzen Tag über knarzende Holzdielen, und auch die Fenster sind alle aus Holz, mit ganz alten Beschlägen. Es gibt schon so eine archaische Dorfschmiedhaftigkeit in dem Haus. Und sowas nimmt man schon immer wieder aufs Neue wahr, auch den Einfall des Lichts. Man beobachtet das Haus also schon permanent auf seine Gemachtheit hin und fragt sich dann, was er – also Le Corbusier – sich wohl dabei gedacht hat. Man lebt ja bis zu einem gewissen Grad in einem Denkmodell. In Marseille heißt das Haus auch la maison du fada, das Haus des Verrückten. Das war natürlich als Beleidigung gedacht, aber das Haus enthält viele höchst irrationale Momente. Das hat nicht so viel mit einer etwas simplen Vorstellung von Rationalismus zu tun. Das Haus ist eher soulful, gerade oben auf dem Dach. Und es ist auch in seiner Programmatik sehr stark am Kind ausgerichtet. Geländer sind beispielsweise auf Wadenhöhe montiert, also für Erwachsene völlig ungeeignet. Und bei den Treppenstufen gibt es in der Mitte so eine Rille, damit sich Kleinkinder darin einhaken und hochziehen können. Und solche Sachen ziehen sich durch das ganze Haus. Der prominenteste Raum auf dem Dach ist der Werkraum des Kindergartens. Es sind wirklich irre Bilder, die man täglich zu sehen bekommt, wie die Kinder in dieser Betonlandschaft rumtoben. Da gibt es bestimmt täglich ein Knie zu verpflastern.

Eingangsbereich und Hof, Westseite © Thomas Meinecke

GAM: Le Corbusier hatte eine genaue Vorstellung, wie das alltägliche, familiäre Zusammenleben im Haus gestaltet sein sollte und hat alltägliche Abläufe im Planungsprozess integriert, z. B. mit entsprechenden Gemeinschaftsbereichen, dem Kindergarten, der Einkaufsstraße und vielem mehr. Wie sieht der Alltag in der Unité d’Habitation heute tatsächlich aus?

TM: Die Einkaufsstraßen gibt es noch, aber die werden heute ganz anders genutzt als geplant. Das Hotel etwa, das sich im Haus befindet, das waren in den ersten Jahren noch Gästeappartements für die BewohnerInnen. In den Wohnungen selbst gibt es nämlich kaum Möglichkeiten, Gäste zu empfangen. Es gibt nur wenige Türen und dadurch auch nur wenige Rückzugsmöglichkeiten in den Wohnungen. Deshalb wurden bis ungefähr 1965 diese Gästewohnungen im Haus genutzt. Dann gibt es heute einen Kunstraum, in dem vor allem Ausstellungen zu Architektur gezeigt werden. In dem Raum standen früher die Waschmaschinen. Es gab dann noch einen Supermarkt, der von außen noch immer erkennbar ist, weil der Schriftzug noch leicht lesbar ist. In dem Raum finden heute auch ab und zu Ausstellungen statt. De facto sind die Läden also nicht leerstehend, aber sie werden einfach anders genutzt. Auf dem Dach ist dann noch das ehemalige Gym, das sich der französische Designer Ito Morabito unter den Nagel gerissen hat. Der macht da aber nur ab und zu mal was, und viele BewohnerInnen sind eigentlich sauer auf ihn. Aber ja, die klassischen Läden gibt es kaum noch. Was es noch gibt, ist eine kleine Konditorei, zugleich Café. Ach ja, es gibt noch das große Restaurant, das sehr beliebt ist, auch weil man da auf dem Balkon zur Meeresseite hin sitzen kann. Und dann gibt es ein paar hippe Läden – das hatte ich aber schlimmer befürchtet – und ein paar Architekturbüros. Es gibt aber auch Chiropraktiker und eine Buchhandlung, die, weitgehend auf Architektur konzentriert, sehr gut funktioniert. Neben der Buchhandlung gibt es noch einen Merchandising-Shop, in dem Utensilien verkauft werden, die im weitesten Sinne mit dem Haus und mit Le Corbusier zu tun haben. Es kommen natürlich, das muss man schon auch sagen, täglich eine Menge BesucherInnen, sehr viel Fachpublikum, KunsthistorikerInnen, ArchitektInnen.

GAM: Es ist also schon ein Haus, das sich permanent auf eine Art und Weise selbst reflektiert. So wie das klingt, scheint man gar nicht umhinzukommen, es eigentlich immer auch als Sehenswürdigkeit zu betrachten. Oder nutzt sich das irgendwann ab?

TM: Man könnte schon drum herum kommen, wenn man das unbedingt wollte. Es gibt ja auch Wohnungen für Studierende, die direkt zum lauten Boulevard raus sind und keinen Ausblick auf das Meer haben. Ich würde mal vermuten, dass die das Haus nicht permanent als Sehenswürdigkeit wahrnehmen. Es gibt auch eine association des habitants, die schon bald nach der Einweihung des Hauses gegründet wurde. Da zahlt man pro Jahr einen kleinen Mitgliedsbeitrag, für den man dann auch ein paar versteckte, nicht sehenswürdige Dinge im Haus nutzen kann. Es gibt zum Beispiel bei den Treppenhäusern so ein paar Inkognito-Räume, so wie im Film „Being John Malkowich“. Da ist dann eine kleine Bibliothek, die von einem rührenden älteren Herrn geleitet wird, der zur Auflage hat, jeden Monat sechs oder sieben relevante Neuerscheinungen zu erwerben. Da steht dann das neue Buch von Annie Ernaux oder von Didier Eribon und viele Kinderbücher. Und wenn man fragt, wann man das ausgeliehene Buch wieder zurückgeben soll, dann antwortet der, „Naja, wenn Sie es halt ausgelesen haben“. Das ist alles toll anachronistisch. Dann gibt es noch ein kleines Kino, in dem Filme von Akira Kurosawa oder Werner Herzog laufen. Da stehen dann dreißig, vierzig Kinostühle in so einem versteckten, eigentlich auch ziemlich schmucklosen Raum. Im jardin d’hiver, dem Wintergarten, gibt es auch einen Versammlungsort für das Haus. Das ist alles ganz anrührend. Dort gibt es ab und an Versammlungen, bei denen auch ein paar legendäre Leute erscheinen, die im Haus schon ihre Kindheit verbracht haben. Und wenn wir da hingehen, werden wir manchmal ganz entgeistert gefragt: „Wer seid ihr denn eigentlich? Was macht ihr denn hier?“ Es gibt also durchaus ein reges soziales Leben all derer, die im Haus leben. Aber natürlich gibt es auch Airbnbs, und es gibt auch eine Wohnung, die gar nicht fest vermietet ist und in der immer Filme gedreht werden, weil darin noch alles original ist.

Blick auf die Ost-Fassade vom Jardin de la Magelone © Thomas Meinecke

GAM: Beschreib mir mal, wie die Unité d’Habitation eigentlich in der Stadt liegt. Muss man sich das Haus wirklich, wie Le Corbusier es getan hat, als einen riesigen Ozeandampfer vorstellen, der in der Stadt gestrandet ist?

TM: Das Haus steht ja auf Stelzen im Grünen, in einem ehemaligen Park eines kleinen Schlösschens aus dem 17. Jahrhundert. Auf dieses Schlösschen blickt man dann herab. Der Park wurde aber schon im 19. Jahrhundert durchschnitten von einem breiten, wie mit dem Lineal gezogenen Boulevard, der auch am Stadion von Olympique Marseille vorbeiführt. Wenn da Spiele sind, dann reichen die Bengalo-Rauchschwaden bis zu uns und du kannst im Grunde jedes Foul hören. Insgesamt ist die Gegend schon etwas seltsam. Das Haus steht offiziell in einer zone industrielle, also einem Gewerbegebiet. Man hat rund um das Haus sehr viele Autowerkstätten und ehemalige Industriegebäude. Aber auch sehr viele Hochhäuser, die ihre Balkons lustigerweise auf die Unité d’Habitation gerichtet haben. Das Haus stellt also schon einen städtischen Faszinationspunkt dar. Und ja, es ist wirklich so eine Art Ozeandampfer, der da gestrandet ist. Gleichzeitig ist es, im Gegensatz zu vielen anderen Häusern rundherum, überhaupt nicht abgeschlossen. Es gibt im Umkreis eine Menge an Gated Communities. Wenn ich an den Strand gehen will, der eigentlich nur einen Kilometer weg ist, laufe ich mindestens zwei Kilometer, weil ich im Zickzack um diese Gated Communities herum muss. Deswegen ist es schon eine angenehm gemischte Gegend: die Fußballfans parken auf dem Boulevard vor dem Haus, zwei Prostituierte auf Rädern kommen und parken unterm Haus, und die Leute aus der Gegend lassen ihre Hunde den Park verkoten. Aber das ist alles irgendwie sehr sympathisch, weil es eben kein Denkmal ist, das nur in seiner Denkmalhaftigkeit dasteht. Das geht auch gar nicht, weil darin immerhin fast 1.000 Leute wohnen.

GAM: Es gibt einen Text von dir, der 1981 in Mode & Verzweiflung erschienen ist, darin heißt es: „Gern denken wir an jene lauen Sommerabende, an denen wir in unserem 13. Stockwerk auf dem Balkon gesessen sind und unsere Blicke bis an den grünen Stadtrand schweifen ließen. Immer haben wir die Hochhäuser schön gefunden.“

TM: Das war natürlich damals in einem weltanschaulichen Kampf gegen so Hippie-Ideen geschrieben …

GAM: … und eine der bekanntesten Songzeilen deiner Band F.S.K. lautete „Und wir sagen Ja zur modernen Welt“. Die Unité d’Habitation war ja selbst auch ein sehr lautes architektonisches „Ja“ zur modernen Welt. Und gleichzeitig ist diese damals gebaute moderne Welt heute bereits eine vergangene. Wie ist das für dich, als dezidiert nicht-nostalgischer Autor, in einer sich doch bereits überholt habenden Utopie zu leben?

TM: Ja, es ist wirklich ein bittersüßes Gefühl. Manchmal steht dann so eine alte Citroën DS vor dem Haus, und da könnte man wirklich nostalgisch werden, dass die Zukunft, wie sie da so entworfen wurde, nun irgendwie doch nicht gekommen ist. Aber bleibt dieses Haus nicht dennoch ein starkes philosophisches Statement? Ich lese ja auch gerne Kropotkin oder Gustav Landauer. Und das ist ja auch alles nicht so gekommen, und trotzdem wird man unter Umständen davon beflügelt – auch wenn das mit der Anarchie ja nun wirklich nicht geklappt hat. Trotzdem bleibt so eine Art halo um diese Ideen. Aber du hast schon recht, jetzt steht da der Corbusier-Sessel meines Vaters in der Wohnung, die irgendwie so eine Art Museum für die Fortschrittsideen der Vergangenheit ist. Das ist allerdings im Haus nicht überall so. Die BewohnerInnen zeigen sich ja immer mal wieder wechselseitig ihre Wohnungen, durchaus mit gewissem Stolz. Und da steht man dann schon mal in Wohnungen, in denen Le Corbusier nicht mehr wirklich zu erkennen ist, weil sie etwa mit Biedermeier-Mobiliar vollgestellt sind.

Thomas Meinecke auf seinem Balkon der Unité d’Habitation © Michaela Melián

GAM: Ich würde dich gerne zum Abschluss fragen, welche Rolle Architektur eigentlich für dich als Autor spielt. Ich habe das Gefühl, dass in deinen frühen Texten konkrete Räume und Orte noch sehr viel präsenter waren – was schon an Titeln wie „Café Adler“, „Interieur“ oder „Villa Hammerschmidt“ deutlich wird. Ich habe das Gefühl, dass dieses Interesse für Orte und Räume mit der Zeit abgelöst wurde durch ein Interesse an Mode, Geschlechterrollen, Theorie und Sprache. Teilst du diese Einschätzung oder täusche ich mich da?

TM: Ich glaube, da täuscht du dich. In meinem kommenden Roman wird zum Beispiel ein ganz konkreter Ort eine zentrale Rolle spielen. Da wird es um Amorbach gehen, als Sehnsuchtsort von Theodor W. Adorno. Und in Amorbach stehen auch einige Gebäude von Peter Speeth, einem der wenigen deutschen Vertreter der Revolutionsarchitektur. Und von dort lande ich im Roman dann wiederum in Odessa, wo Speeth auch gebaut hat. Es gibt auch einen anderen Roman von mir, Hellblau, der in Chicago spielt und in dem Architektur ein ganz zentrales Motiv ist. Das hatte damit zu tun, dass, während ich an dem Roman arbeitete, die Sozialwohnungsblöcke in der South Side von Chicago abgerissen wurden. Das war eine regelrechte Kapitulation vor den Ideen und den Hoffnungen, die mit deren Errichtung zusammenhingen. Deswegen würde ich schon sagen, dass Architektur für mich als Autor eine ganz wesentliche Bezugsebene ist, über die ich etwas erzählen kann.

GAM: Vielen Dank für das Gespräch.