„Das ist für mich also mehr wert, als wenn man sagt, dass man sich von vornherein nur informiert und aus der Information heraus bezieht, mit anderen Worten, frech gesagt, ich mach nicht Sachen, würd’ ich sagen, die nur in der Geschichte zurückreichen, und nimm‘ Motive auf, sondern ich versuch‘ eine Architektur zu machen, dass die Denkmalpfleger in 30 Jahren noch etwas zu tun haben.“[1]
Zu seinem zehnten Todestag findet in Kärnten an vier Orten die Ausstellung „Günther Domenig: Dimensional. Von Gebäuden und Gebilden“ statt. Neben zwei Ausstellungen in Klagenfurt sind Domenigs Steinhaus am Ossiacher See und die Überbauung des Eisenindustriedenkmals in Heft bei Hüttenberg zugleich Exponate und Orte dieser Ausstellung und liefern mir einen unmittelbaren Anlass für diesen Beitrag über einen bislang unbeleuchteten Aspekt des zentralen Künstler-Architekten der „Grazer Schule“.[2]
Als ich im Sommer 2007 am Institut für Gebäudelehre der TU Graz als Universitätsassistent zu arbeiten begann, entdeckte ich in der untersten Schreibtischlade meines neuen Arbeitsplatzes vier Audiokassetten. Die Handschrift auf den Klebeetiketten gab die Kassetten als Aufzeichnungen von verschiedenen Vorlesungen Günther Domenigs im Wintersemester 1987/88 zu erkennen (Abb. 1). Mit der Absicht, beizeiten in sie hineinzuhören, legte ich sie in einer Dokumentenablage in meinem neu bezogenen, hintersten Raum in der einstigen „Domeniganischen Republik“ ab – wie das Institut für Gebäudelehre (und Wohnbau) im vierten Stock des 1994 nach Plänen von Domenigs Büro fertiggestellten Erweiterungsbaus der TU Graz (Wettbewerbsgewinn 1983, Abb. 2) im Foyer beschildert war. Während alle Erinnerungen an diese Republik immer weiter verblichen, verblieben die Kassetten an ihrem Ort, um ein Bild der Vergangenheit an einem bestimmten Moment erzeugen zu helfen, den Walter Benjamin so charakterisiert hat: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist‘. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“[3]
Dieser Beitrag fragt, indem er sich den auf Kassetten aufgezeichneten Gebäudelehrevorlesungen des damals 51-jährigen Günther Domenig bemächtigt, was sich in ihnen zu erkennen gibt, das für professionelle Selbstverständnisse in der Gegenwart Bestand haben oder Informationen liefern könnte. Dafür bette ich die Aufzeichnungen im Folgenden in die hochproduktiven 1980er-Jahre ein – die Blütephase der „Grazer Schule“ – und erläutere zuvor meine eigenen Verflechtungen bzw. weitere benutzte Quellen. Denn obwohl ich während meiner Studienzeit in den 1990er-Jahren am Gebäudelehre-Institut die meisten Entwurfsstudios und Lehrveranstaltungen absolvierte, hörte ich nur zwei von Domenig selbst gehaltenen Vorlesungen und sah nur zwei seiner Diplomprüfungen. Domenig nahm auch an der zweiwöchigen Exkursion nach Los Angeles nicht teil, die anlässlich der einjährigen Gastprofessur Thom Maynes an seinem Institut 1996 stattfand und uns exklusive Zugänge zu einer atemberaubenden Fülle südkalifornischer Architektur-Juwele verschaffte.[4] Domenig schaute zwar im Entwurfsstudio vorbei (das im Sommersemester 1997 im Gebäude des KünstlerInnenvereins Forum Stadtpark eingerichtet war), er kam aber nicht zur Zwischen- oder Schlusskritik. So sehr Domenigs ausgeprägt skulpturales Architekturverständnis meine damalige Wahrnehmung einer „Grazer Schule“ diffus prägte, so unscharf blieb diese aufgrund des stilistisch zugleich so vielschichtigen Oeuvres (Mega-Structures, Brutalismus, Pop Art, Organic Architecture, Dekonstruktivismus) auch bzw. wurde sie ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre von zwei Aspekten in Frage gestellt, die zunehmend studentische Aufmerksamkeit auf sich zogen: die Computerisierung und die anregenden Provokationen des holländischen Architekten und Architekturtheoretikers Joost Meuwissen, der 1995 die Professur für Städtebau an der TU Graz übernahm.
Während die digital-euphorischen Verheißungen die Handzeichnung – und damit sowohl das zentrale Medium als auch ein vielfach wiederkehrendes Motiv in Domenigs Bauten und Projekten – als wichtigstes Scharnier baukünstlerischer Zugriffe auf vorhandene und imaginierte Welten zu relativieren begann, zog Meuwissen eine diskursiv neue Ebene in die Grazer Architekturfakultät ein. Diese war zwar nicht leicht verständlich, aber zusammen mit seinen an Robert Venturi erinnernden Kugelschreiberskizzen erfrischend polemisch, wenn sie alten Meistern oder Wettbewerbsausschreibungen philosophisch gewitzt mit „erhöhtem Empirizismus“ begegneten. Meuwissens hyper-affirmativer, Pop-Art-geschulter Ansatz stand in deutlichem Gegensatz zu Domenigs betont persönlicher, grundsätzlich widerständiger und radikal Neues einfordernder Haltung. Dennoch war es Domenig, der Meuwissen bewogen und letztlich auch überredet hatte, nach Graz zu kommen.[5] Auch wenn Meuwissens Popularität eher mit der steigenden internationalen Bekanntheit von Rem Koolhaas bzw. dem Super-Dutch-Phänomen einherging und sich weniger seiner am Rationalismus eines Giorgio Grassi geschulten Skepsis gegenüber allzu persönlich (miss-)verstandenen Beiträgen zur uralten Architekturdisziplin verdankte:[6] Um die Jahrtausendwende stand ich jedenfalls – ebenso wie viele andere aus den Grazer Zeichensälen – zur Diplomarbeitsbetreuung am Institut für Städtebau Schlange – und Domenig emeritierte.
Domenig war von 1980 bis 2002 Professor und Vorstand des Instituts für Gebäudelehre und Wohnbau. Seine Antrittsvorlesung „Verwandlung“ hielt er erst 1982, nachdem er zuvor elf Gäste an seinem Institut Gastvorträge im Rahmen der Gebäudelehrevorlesung halten ließ. Die ersten waren Coop Himmelblau (Wolf Prix und Helmut Swiczinsky) mit ihrer legendären Flammenflügel-Aktion im Hof der „Alten Technik“, auf die dann u.a. Adolf Max Vogt, Peter Cook, Raimund Abraham, Frei Otto, Peter Noever und Frank Gehry folgten (Abb. 3).
In den folgenden Jahren hielt Domenig jährlich auch jene Vorlesungen zu „Grundlagen der Gebäudelehre“ im ersten und „Gebäudelehre 1“ im zweiten Studienabschnitt, die auch auf den Audiokassetten aus dem Wintersemester 1987/88 aufgezeichnet wurden (Abb. 4). Die umfangreichste dieser Aufzeichnungen befindet sich auf der ersten Kassette und wurde von Domenig im Rahmen der Vorlesung „Gebäudelehre 1“ an zwei Terminen gehalten: „Bildung, Ausbildung am Hochschulsektor“ referiert die Geschichte des Universitätsbaus als Überblick von den Philosophenschulen der griechischen Antike bis zu den stadtteilgroßen Universitätsneubauten in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre. Domenig bezeichnet diese Vorlesungen auch als konkrete Folge seiner Arbeit an den beiden Projekten für die TU-Graz-Erweiterungsbauten in der Steyrergasse und in der Lessingstraße (1983–1994) und leitete sie mit einer scheinbar bereits von den Erfahrungen und Widerständen der Grazer Projekte herrührenden Skepsis gegenüber dem Universitätsbau ein:
Was lernt man aus der Geschichte heraus? Wie weit gibt es Verbindungen, die einen beeinflussen. Wie ich das letzte Mal erzählt habe, im architektonischen Entwurf ist das auch nicht so, dass man alles allein erfindet. Wie weit diese Dinge einem helfen können, wenn man an ein bestimmtes Thema, an eine Planung herangeht. Es sind auch verschiedene Arbeitsweisen von Leuten, die Architektur machen, der eine bezieht sehr viel aus der Geschichte heraus, der andere beschäftigt sich weniger damit. Ich neige nicht so sehr dazu, zuerst diese ganzen Fakten aus den Beständen heraus zu studieren, bevor ich mich speziell mit irgendeiner Entwurfsäußerung beschäftige … Das, was wir herausgezogen haben war z.B. die Geschichte der Reformen, die Geschichte der Universität mit den Gelehrten, war also weitgehendst, und das ist auch etwas, das mir dann aufgefallen ist, warum heute noch die Leute im Talar und mit ihren großen Ketten herumlaufen wenn sie Dekane oder Rektoren geworden sind … dass die Gelehrten eher eine konservative Haltung dem Grunde nach in der ganzen geschichtlichen Entwicklung gehabt haben, dass sie die ehrwürdige Tradition pflegen, und dass sie sich dem Grunde nach gegen den Wandel gewehrt hätten …[7]
Die Genese dieser umfangreichen Vorlesung lässt sich ebenso wie die dabei benutzten Quellen durch zahlreiche Unterlagen, Kopien und Notizen in Domenigs Nachlass in der Sammlung des Architekturzentrums Wien (AzW) eingehend studieren bzw. auch mit der umfangreichen Diasammlung verknüpfen, die für alle hier besprochenen Vorlesungen die visuelle Grundlage bildeten und in Doppelprojektion mit den charakteristischen Aufforderungen „Linkes Bild!“, „Rechtes Bild!“ voranschritten.
Meine Recherchen im AzW belegten auch, dass die von mir gesicherten Domenig-Tapes weniger bahnbrechend Neues zu einer zukünftigen Domenig-Forschung beitragen werden, da die auf den Kassetten aufgezeichneten Vorlesungen auch in verschiedenen Fassungen und teilweisen Fragmenten verschriftlicht im Nachlass wiederzufinden sind. Was die Domenig-Tapes aber tun und worauf sich auch meine transkribierte Auswahl für diesen Betrag konzentriert, ist jene professionelle Facette Domenigs zu verdeutlichen, auf die weder in den gegenwärtigen Ausstellungen noch in den zahlreichen Publikationen zu und über Domenig bzw. zur „Grazer Schule“ näher eingegangen wird. Trotz Domenigs ebenso unbestrittener wie zentraler Rolle als wichtigster und international bekanntester Protagonist des publizistischen Labels „Grazer Schule“[8] ist seine Rolle als Lehrer, als Vermittler von architektonischem Wissen, von künstlerischen Intuitionen und professionellem Selbstverständnis kaum eingehender untersucht. Ein Grund dafür liegt sicherlich in dem Umstand, dass Domenigs Lehre an der TU vornehmlich – und im Laufe der Jahre auch immer umfassender – von seinem Institutsteam mit großen inhaltlichen Freiheiten abgedeckt wurde. Was die vorliegenden Bänder daher auszeichnet, ist die Möglichkeit, mit ihnen in die akustische Atmosphäre – Stimme, Dialekt, Rhetorik und Humor – von Domenigs Lehre während seiner akademisch engagierteren 1980er-Jahre einzutauchen:
Ich weiß nicht, ob ich das Thema so abdecke. Was haben wir jetzt getan im Laufe dieses Wintersemesters? Also bei mir – fünf Themen von diesen Wechselbeziehung hat es gegeben, abgesehen von der Einleitung, das war also das zwischen Utopie und der Wirklichkeit, zwischen den Einzelnen und der Gemeinschaft, Gestaltung in der Architektur, bildende Kunst und Architektur und Gegenwart und Geschichte, mit dem Laszlo Pap noch die Themen der Gebäudeanalysen, der Aufgaben des Architekten und … Was haben wir noch gehabt? Planung und Kontrolle. Und ich glaub‘, dass ich mit diesen Themen in etwa das abdecke, um was es in der Architektur gehen kann, und obwohl es sehr persönlich ist, glaube ich, dass man in etwa eine Übersicht bekommen konnte. Ich hab‘ am Anfang gesagt, dass es mir recht wäre, wenn ich Sie begeistern könnte, dass sie Architektur weitermachen und nicht, dass sie also die Lust verließen. Sowas kann man sich nicht anmaßen, dass man das erreicht, aber was ich wollte und was ich hoff’, dass es halbwegs herausgekommen ist, dass es zwar eine Sache ist, wo man auch Gegenstände hat, die nicht sehr angenehm sind, aber dass es daneben etwas ist, das man in dieser Berufstätigkeit hätte, das wäre also die Dimension des eigenen Einfalls oder der eigenen Fantasie in die Arbeit hineinzulegen, und dass es unzählige und vielfältige Beispiele gibt in der heutigen Zeit, Architektur zu machen und das meine ich, das sollten Sie bedenken, wenn wir uns vielleicht doch noch im 5. oder 6. Semester treffen sollten. Dann gibt’s nämlich noch das Thema der Gebäudelehre 1. Damit Sie nicht verunsichert sind, wir haben verschiedene Prüfungsthemen, die können Sie sich aussuchen und theoretisieren, Sie können konkretisieren und irgendwas herausnehmen, was Sie wollen, und dann beschäftigen Sie sich halt damit und ich hoffe, wir sehen uns wieder. Wiederschauen![9]
Mit diesem Ausblick auf einen großzügigen, d.h. auf die intrinsische Motivation der Studierenden im ersten Studienabschnitt vertrauenden Prüfungsmodus verabschiedet sich Domenig in der letzten „Grundlagen der Gebäudelehre“-Vorlesung im Wintersemester 1987/88. Auf den Kassetten befinden sich zwei Aufzeichnungen aus dieser Vorlesungsreihe – „Architektur und Bildende Kunst“ vom 16. Dezember 1987 und „Geschichte und Gegenwart“ vom 27. Jänner 1988, aus der auch obiges Schlusswort stammt. Auch diese Vorlesungen finden sich fast vollständig und in teils schreibmaschinengeschriebenen Versionen in Domenigs Nachlass. Die letzte Kassette ist Teil eines nicht näher bezeichneten Vortrags oder einer Vorlesung vom 20. Mai 1988 deren Untertitel jedenfalls „Steinhaus, Steindorf, Steinhof“ lautet.
In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre stellten sich für Domenig fortlaufend weitere internationale und institutionelle Anerkennungen ein. So stellte er 1986 an der Londoner AA Zeichnungen zum Steinhaus aus, unter dem Titel „Drawing on dreams: Günther Domenig: Steinhaus – Stonehouse“ wurde ein ausführliches Gespräch mit ihm in den AA Files publiziert und mit der Nummer XI wurden seine Zeichnungen in der prominenten Folio-Reihe der AA auch als hochwertige Sammler-Edition veröffentlicht (Abb. 5).[10] Peter Cook berichtete bereits seit Anfang der 1980er-Jahre regelmäßig über Domenigs Arbeiten in The Architectural Review und im Rahmen des jährlichen Kunst-Festivals steirischer herbst fand im ORF-Landesstudio unter dem Titel „Bau ist Kunst – Ist Bau Kunst?“ ein zweitägiges, hochkarätig besetztes Symposium statt, in dem Domenig neben Gottfried Böhm, Mario Botta, Michael Graves, Arata Isozaki, Karla Szyszkowitz-Kowalski, Hans Hollein, Gustav Peichl und Richard Meier referierte und architektonisch-künstlerische Arbeiten von talentierten Studierenden präsentieren ließ.
In den von Domenig selbst gehalten Vorlesungen gilt sein dezidiertes Interesse einerseits dem über das Bauen ermöglichten Zugang zu architektonischen Gratwanderungen in Richtung der Skulptur. So erzählt er etwa in der Vorlesung „Architektur und Bildende Kunst“ von Kollaborationen mit Handwerkern auf der Baustelle der Wiener Z-Sparkasse bzw. wie er die Skulptur seiner Hand auf der Baustelle kollaborativ produzierte und der Bauleitung unterjubelte:
Die Idee ist eigentlich aus der Körpersprache des Diskutierens entstanden, und ja, dann hab ich gedacht, jetzt machst’ eine Hand, und nachdem ich sage, ich bin kein Künstler nicht, habe ich meine eigene Hand gemacht und riesengroß, im Maßstab 1:50 vergrößert und dann hab ich meine eigene Hand hergenommen und hab‘ in diesem eigenen Verfahren von dieser Betonspritzung diese Hand modelliert. Zuerst mit diesen Eisengeweben und dann hab ich immer langsam immer mehr Beton hineingespritzt und das war damals eine Zeit von einem ziemlichen Krieg mit dem Bauherren, ein Projekt das sich in einem Grenzbereich bewegt hat […] inzwischen hab ich im ersten Obergeschoss diese Hand gemacht, am 3. Tag hat er mich wieder hinaufbestellt, sag ich: “Na gut, das ist wirklich im Verhältnis eine Kleinigkeit zu meiner Hand im ersten Obergeschoss, “Oh, da ist eine Hand?” aber da habe ich schon so viel Beton hineingespritzt, dass man diese Hand nicht ohne weiteres wieder heruntertun hätte können. … da war er völlig konsterniert, und nach langen Diskussionen hat er mir dann die Hand eben unter der Voraussetzung genehmigt, dass ich nicht auf den Gedanken komm‘, nicht auch noch andere Körperteile zu machen […] Das habe ich nicht alleine gemacht, sondern mit einem Maurer, der sich sehr gut ausgekannt hat. […] Ich hab ihm dann gesagt, er soll den zweiten Finger selber machen, also er soll seinen eigenen Finger bauen, deswegen ist der zweite Finger nach vorne geknickt und der vierte Finger von mir nach hinten (Abb. 6).[11]
Andererseits kombiniert Domenig mit seinem zentralen Interesse an der unscharfen Grenze zwischen Architektur und bildender Kunst Kritik am baulich-konventionellen Durchschnitt mit der Lust an Grenzüberschreitung. Dieses Interesse schlägt auf die Themen seiner Entwurfslehre insofern durch, als sich etwa von ihm betreute Diplomarbeiten sehr freien Themenstellungen widmen konnten und dabei poetische Reflexionen mit historisch-typologischen Analysen ebenso verbinden konnten, wie sie bild- und medientechnische Experimente zur Entwurfsgenese einsetzen konnten oder mit klassischeren Modell-, Bild- und Zeichentechniken auch über räumliche Gebilde spekulierten, denen kein konventioneller Nutzungszusammenhang zugrunde lag. Diese große inhaltliche und formale Freiheit zog in den 1980er-Jahren die talentierten und hoch motivierten Studierenden an, stellte aber für den breiteren Durchschnitt naturgemäß wenig fassbare Hürden auf. Domenigs Lehre der 1980er entfaltete an der Architekturfakultät jedenfalls eine bemerkenswerte Dynamik und Erneuerung, weil sie die funktionalistische Brille technischer Ausbildungsverständnisse radikal und nachhaltig in Richtung von Hybriden und Basteleien erweiterte. Diese Erweiterung forderte sowohl in Richtung der Form als auch in Richtung des baulichen Kontexts und des Bestands mehr Auseinandersetzungen und komplexere Verständnisse ein. Beides illustrierte Domenig etwa in der Vorlesung „Geschichte und Gegenwart“, wenn er sowohl in Richtung Altstadt- und Denkmalschutz dezidiert Stellung bezieht, als auch ein komplexeres Verhältnis von Form und Funktion mit einem für ihn besonders eindrücklichen Beispiel aus Rom illustriert:
Da ist ja im Grunde nix zu sagen, dass es also schöne Altstadtkerne gibt … dass diese Altstadtkerne auch so erhalten werden sollen, die Gefahr liegt jedoch dort, sie nur als ein Relikt zu sehen, das man einfach auf Trab haltet. Jede Stadt und jeder Organismus, der lebendig ist, wird gebraucht. Es werden Häuser gebraucht, die Häuser werden verbraucht und müssen in irgendeiner Form einmal erneuert werden. Und die Gefahr dieses Denkens in die Richtung hin liegt ja auch natürlich in dem Kommerziellen, nämlich im Spekulativen, im politisch Spekulativen, dass man dann sagt, okay, es kann Geschäft machen in der Altstadt, wir können das auch in Graz beobachten, und letztlich wird diese Altstadt zu einer Art von Fetisch oder zu einer Touristenfalle. Und es wird nichts mehr und es darf nichts mehr entstehen, das jetzt irgendwann einmal, wenn ein Gehäuse abgebraucht ist, das im Verhältnis zwischen alte und neue Architektur gemacht werden kann … Ein für mich also großartiges Projekt, das Anfang der 60er-Jahre, genau genommen, im 62er-Jahr fertig geworden ist. Ich glaube die Architektengruppe hat Passarelli geheißen, die haben also dieses Projekt gemacht, die sind also später nie mehr aufgetaucht, ich hab‘ sie bei keinem der anderen Projekte einmal in einer Publikation gelesen, und das ist ein ungeheuer mutiges Projekt, das auch eine andere Sache außen zu erkennen gibt. Das was innen in der Funktion passiert soll außen ablesbar sein. Das sind also im Erdgeschoß und im Untergeschoß sind Garagen, in den ersten drei, vier Geschoßen sind Bürofunktionen untergebracht, das zeigen die deutlich an einem klaren Glaskörper, der natürlich in der Flucht auf den Straßenzug Rücksicht nimmt. Oben sind Wohnungen, und die Wohnungen sind als eigene Elemente gezeigt … es gibt eine Verdrehung zwischen dem unteren und oberen Baukörper, es ist konstruktiv sehr komplex und kompliziert und schwierig, aber es ist ein Nicht-verstecken-von… und ich find das also ein sehr, sehr wichtiges Beispiel (Abb. 7).[12]
Im Gegensatz zur oftmals polternd-polemischen Künstler- und Medienfigur der folgenden Dekaden gewährte Domenig den Studierenden in den 1980er-Jahre differenzierte Einblicke in sein Denken und gab großzügig Auskunft über die Quellen seiner architektonischen Formen bzw. seiner Formfindungsprozesse. Domenigs hybrides Inspirations- und Einflussfeld besteht aus zahlreichen Werken der Architektur und Bildenden Kunst, erwähnt aber u.a. auch H. R. Giger und seinen Beitrag zum Science-Fiction-Klassiker Alien. In den Vorlesungen finden sich immer wieder Arbeiten von Konrad Wachsmann, Buckminster Fuller, Walter Maria Förderer, Werner Hunziker, Frei Otto, Carlo Scarpa, Lucien Kroll, Umberto Boccioni, Fritz Wotruba, Walter de Maria, Gordon Matta-Clark, Nicolas Schöffer, Richard Serra, Christo und – ganz besonders – das Oeuvre des befreundeten Künstlers Walter Pichler (Abb. 8). Wie Pichler schuf sich Domenig mit seinem Steinhaus auch eine Behausung für seine Skulpturen – „Nix-Nuz-Nix“, die Brunnenskulptur, transformierte Elemente der Gebirgslandschaft – die zugleich selbst Skulptur ist, d.h. Behausung und Skulptur ineinander verschmelzen lässt:
Ich arbeite jetzt an einem Thema eines eigenen Hauses – ich bin auch Kärntner, unglücklicherweise, hab sehr lang in Kärnten gelebt in meiner Jugendzeit in einer sehr gebirgigen Landschaft und bau also jetzt mein eigenes Haus. Und hab irgendwo aus dieser Gegend heraus, wo ich gelebt hab und aus meiner Produktion heraus jetzt die Absicht, irgendeine Alternative einmal zu versuchen, wie man gezielt bauen kann in einem Ort und eine Architektur herausbringt, die mit dem Ort was zu tun hat, mit der Landschaft was zu tun hat, mit der Architektur was zu tun hat, die aber auch ein Ausdruck der zeitgemäßen oder unserer Fantasie ist. Und wie gesagt, ich habe dann sehr lange gearbeitet daran und ich hab gewisse Figurationen von Gebirgen und Felsen studiert und hab dann versucht, mit Zeichnungen darauf zu reagieren … und bin auf diese archetypischen Haus- und Dachformen eingegangen, die aber irgendwo durch die Zerbrechung anleiten sollen, die also wesentliche Elemente aufnehmen in der Architektur, die vorhanden ist, die sie weiterentwickeln, erneuern sollen … aus dem heraus ist dann aus einer der ersten Skizzen ein Haus entstanden, wo ein Hügel aufgeschüttet ist, aus dem die Felsen herausbrechen und das ist also sehr lange von mir noch bearbeitet worden, jahrelang, und das Endergebnis ist eine Ansicht von diesem Haus, das ich unter der Erde einmal anfang und bei dem ich im Augenblick im Bauen bin.[13]
Auf der vierten Kassette beschreibt Domenig die Entwurfsgenese des Steinhauses mit den Dias schrittweise als visuellen Links-Rechts-Dialog aus Fotografie und Handzeichnung – auch das ein wiederkehrender Vortragsinhalt, der sich zum Teil bereits in seiner Antrittsvorlesung von 1982 und entsprechend auch in der Diasammlung wiederfinden lässt.
Ich spiel das ganz schnell durch. Meine eigene Geschichte. Mein eigenes Haus. Ah, gelebt in zwei verschiedenen Gegenden in Kärnten. Und ich spiele jetzt also nur diese Naturbeziehung durch. Natur studiert: rechte Bild – Gelände studiert: linke Bild; Gezeichnet, nicht abgezeichnet, gezeichnet: rechte Bild … Detail studiert, Übergang vom Bewuchs zu Stein […] Linke Bild: Architektur angeschaut – Rechte Bild: Architektur gezeichnet, Architektur zerbrochen – nicht Nachzeichnen, alte Teile zeichnen, neue Idee hinein … Linke Bild: Transportiert ins Steinhaus, Erste Skizzen – Felsen, die aus den Hügeln brechen … Linke Bild: wieder Architekturzeichnungen … Teile von Kärntner archetypischer Architektur, auch gezeichnet, auch verfremdet, auch neuer Einfall – Rechte Bild: Stein angeschaut – Linke Bild: … Stein nachempfunden, nicht nachgezeichnet – Rechte Bild: Baum angeschaut; Links, Baum gezeichnet, links! Baum gezeichnet, nicht nachgezeichnet, kann Teil der Architektur sein, der neuen Architektur sein – Rechts: Teil vom Steinhaus, rechte Bild … linke Bild … links eine Zeichnung – halb Architektur, halb Gelände, halb neue Idee … Rechte Zeichnung: endgültige Fassung, Zeitunterschied 10 Jahre – Links: auch nicht Natur, aber mit Natur, aber mit alter Architektur – Rechts: schaut anders aus, aber doch das gleiche …[14]
Was an diesen ersten Verknüpfungen von Originalton und Dias verblüfft, ist die Präzision und Klarheit mit der sie Auskunft über die Analyse- und Syntheseprozesse in den Entwürfen Domenigs erteilen. Die Architekturzeichnungen bestätigen dabei einerseits ihren bis heute gültigen Status als sowohl funktionales wie künstlerisches Medium der Architektur. Über ihre einzigartige Funktion zur gleichzeitigen Darstellung innerer und äußerer Form und ihren eigenständigen Status als künstlerisches Artefakt hinaus werden die Architekturzeichnungen aber in Domenigs Vorlesungen mittels Doppel-Projektionen in Dialoge verwickelt, die den Quellen architektonischer Form – im Falle des Steinhauses die Dias von Gebirgsformationen und Anonymen Architekturen – nachspüren lassen und durch Domenigs Originalton authentisch und plausibel werden. Gerade weil die Beforschung der Architekturkultur der 1980er-Jahre angesichts heutiger Aufmerksamkeits- und Ausschlussmechanismen Gefahr läuft, ihre Inhalte identitätspolitisch ins Abseits zu kontextualisieren, lässt sich mit den Aufzeichnungen von Domenigs Vorlesungen ein Forschungsdesiderat konturieren, mit dem das ebenso eindrucksvolle wie selbstbezügliche künstlerisch-skulpturale Oeuvre um eine Facette bereichert werden könnte, die sich gerade nicht durch Domenigs Doppelrolle als (Künstler-)Architekt und Hochschullehrer hindurchzieht – seine bemerkenswerte Fähigkeit Dialoge herzustellen:
[…] es gibt also niemanden, der allein auf einer Insel lebt, in Isolation und der nur Dinge tut, die er sich selbst einfallen lassen muss. Es gibt einen Umraum, es gibt die Landschaft, es gibt die Nachbarschaft, und alles was wir tun, auch in dem Bereich des Einfalles oder der Kreativität, ist etwas, das auch die Nahrung aus der Geschichte ist und nicht nur ein Einfall alleine, den wir aus uns allein beziehen können. Und, wie gesagt, es gibt dieses Wechselspiel zwischen Lernen aus der Geschichte, Lernen aus der Erfahrung, und eben die Dinge zu versuchen, etwas Neues sich einfallen zu lassen.[15]
[1] Domenig, Günther: „Grundlagen der Gebäudelehre – Geschichte und Gegenwart“, Audio-Aufzeichnung der Vorlesung am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, 27. Januar 1988.
[2] Von steirischer Seite hält die von Michael Zinganel im Kunsthaus Muerz ab Ende Oktober 2022 kuratierte Ausstellung „Wir Günther Domenig“ dem heroisch-einzelkämpferischen Narrativ seiner architektonischen Praxis das personelle Umfeld in Domenigs Wirkungsfeldern Büro und TU Graz kritisch entgegen; siehe: Zinganel, Michael: „Wir Günther Domenig“, online unter: www.kunsthausmuerz.at/veranstaltungen/wir-guenther-domenig (Stand: 20. September 2022).
[3] Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Benjamin, Walter: Gesammelte Werke, Frankfurt am Main 2022, 695.
[4] Thom Maynes Büro Morphosis hatte gerade den Wettbewerb zum Neubau der Hypo Alpe-Adria Bank in Klagenfurt unter Domenigs Juryvorsitz gewonnen.
[5] Vgl. Koller, Michael im Gespräch mit Joost Meuwissen: „Vom Diskursiven im Städtebau“, Juni 2015, online unter: www.atelierkoller.com/2015/06/forum-062015-interview-joost-meuwissen.html (Stand: 19.09.2022).
[6] Vgl. Meuwissen, Joost/Fakultät für Architektur der TU Graz: Zur Architektur des Wohnens, überarb. Neuauflage von Vorlesungen aus dem Jahr 1992/93, Zürich 2018.
[7] Domenig, Günther, „Gebäudelehre 1. Bildung, Ausbildung im Hochschulsektor“, Audio-Aufzeichnung der Vorlesung am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, 16. Dezember 1987.
[8] Vgl. Achleitner, Friedrich: „Gibt es eine Grazer Schule? (1993)“, in: Achleitner, Friedrich (Hrsg.): Region, ein Konstrukt? Regionalismus eine Pleite, Basel 1997, 79–100.
[9] Domenig: „Grundlagen der Gebäudelehre – Geschichte und Gegenwart“ (wie Anm. 1).
[10] Vgl. Boyarsky, Alvin: “Drawing on Dreams. Günther Domenig: Steinhaus – Stonehouse, A Conversation by Alvin Boyarsky, Peter Cook, Günther Domenig and Peter Noever”, AA Files 13, 103 (1986), 100–105.
[11] Domenig, Günther: „Grundlagen der Gebäudelehre. Architektur und Bildende Kunst“, Audio-Aufzeichnung der Vorlesung am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, 16. Dezember 1987.
[12] Domenig: „Grundlagen der Gebäudelehre – Geschichte und Gegenwart“ (wie Anm. 1).
[13] Ebda.
[14] Domenig, Günther: „Zweiter Teil des Vortrags: Steinhaus, Steindorf, Steinhof“, Audio-Aufzeichnung am Institut für Gebäudelehre der TU Graz, 20. Mai 1988.
[15] Domenig: „Grundlagen der Gebäudelehre – Geschichte und Gegenwart“ (wie Anm. 1).