Das Hongkong von 2019 versinnbildlicht, wie viele der drängendsten sozialen Fragen unserer Zeit, Fragen des menschlichen Lebens und des urbanen Commons, an den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens im urbanen Raum ablesbar sind. Noch nie in der jüngeren Geschichte hat eine Stadt ihre sozialen Friktionen und historischen Ambivalenzen so deutlich anhand informeller Raumaneignungen sichtbar gemacht wie Hongkong im Jahr 2019, wo sich seit Monaten Millionen BürgerInnen auf der Straße befinden und den Stadtraum verändern. Die Gedanken und Fotos in diesem Essay sind im Juli 2019, auf dem ersten Höhepunkt des breiten Protests von zwei Millionen BürgerInnen der Stadt gegen den befürchteten Verlust demokratischer Freiheiten, entstanden. Zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte Hongkongs kann die Stadt in vieler Hinsicht als ein Labor für mögliche Zukunftsszenarien für Leben in urbaner Dichte gesehen werden: In Hongkong, der Stadt mit der größten Bevölkerungsdichte und geringsten Wohnraumbezahlbarkeit der Welt, wiegen alle urbanen Friktionen und Konsequenzen von Dichte, Fragen zur Öffentlichkeit und Privatheit von Raum, östlicher und westlicher Stadtkonzeptionen, Formalität und Informalität in der Stadt, Eigenem und Anderem, schwerer als anderswo. Der Titel dieses Essays „Together we thrive!“ zitiert den Werbespruch, der sich über die gesamte Fassade des HSBC-Bank Towers, dem gebauten Symbol von Hongkongs hegemonialer Stellung als Finanzzentrum, zieht. Es war dieser Slogan, vor welchem sich über Monate hinweg die BürgerInnenproteste formierten. Der Slogan und seine imposante architektonische Geste wurden zum Symbol für den Widerstand gegen die herrschende wirtschaftliche und politische Macht in der Stadt. Sie zeigten, wie die informelle Aneignung des urbanen Raums seine formelle Programmierung, ja sogar seine bauliche Ikonografie und seine Narrative invertieren kann und so informell von den BürgerInnen angeeignet wird. Durch die gemeinschaftliche, informelle Aneignung der Bedeutung des Slogans durch den erkämpften räumlichen Kontext der DemonstrantInnen nimmt „Together we thrive!“ eine neue, gegenteilige Bedeutung an, wird zu einem Spruch, dessen einst kommerziellwerbliche Diktion plötzlich vergemeinschaftlicht wird, zum Commons wird. Allein der neue räumliche Kontext verändert die Deutungshoheit über den Slogan, der so einem Commoning[1] unterworfen wird, also „gemeingeschaffen“ wird.
Die Art und Weise, wie in Hongkong öffentlicher Raum definiert und bewertet wird, spiegelt sich im einzigartigen historischen Spannungsfeld der Stadt – zwischen dem kulturellen Erbe Chinas und der britischen Kolonialherrschaft. Beide historischen Einflüsse haben auf ihre eigene Weise zu einem eklatanten Mangel an öffentlichem Stadtraum beigetragen. Laut Kulturforschung liegt die Ursache dafür in der kulturell bedingten, allgemeinen Geringschätzung von öffentlichem Raum.[2] In einigen der am dichtesten besiedelten Viertel der Stadt kommen heute auf einen Bewohner bzw. eine Bewohnerin weniger als 0,5 Quadratmeter öffentlicher Raum.[3] Diese Entwicklung ist auf die historische chinesische Tradition zurückzuführen, die Versammlungen auf öffentlichen Plätzen „zum Wohl des Landes“[4] verbietet. So sehr die Wurzeln dafür in der traditionellen chinesischen Kultur liegen mögen, so sehr hat die britische Haltung gegenüber der Stadt als „geborgtes Land auf geborgte Zeit“[5] die Prioritäten in der Stadtplanung unweigerlich mehr auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als auf das Wohl der Stadtbevölkerung gelegt.[6]
Als Sonderverwaltungszone unter chinesischer Oberherrschaft ist Hongkong in jüngster Geschichte zur paradigmatischen Symbolstadt des Konsums geworden. Die Tempel ihrer Konsumkultur machen es deutlich: Keine Stadt der Welt beheimatet so viele Shoppingmalls wie Hongkong. Viele von ihnen ziehen sich über mehrere zehn Stockwerke und sind zu eigenständigen Städten geworden, Wohn-, Arbeits- und Freizeitraum für zehntausende BürgerInnen, deren Leben sich primär in der Blase einer gezähmten Konsumkultur abspielt.[7] Die zahllosen in Privatbesitz befindlichen Passagen, Gänge und Brücken, die an Geschäftsgebäude, Malls und „Plazas“ angrenzen, leisten einen entscheidenden Beitrag zur Konnektivität und Fußgängermobilität, ohne die der Fluss der Menschen schlicht undenkbar wäre. Mit einer Shoppingmall auf 2,5 Quadratkilometern[8] sind Hongkongs kommerzialisierte Räume zum Ersatz für den traditionellen öffentlichen Raum geworden. Angetrieben von einer durch Konsum dominierten Öffentlichkeit, hat sich die Mall als ortsübliche Baukultur für den öffentlichen Raum durchgesetzt und damit die idealistische Vorstellung von öffentlichem Raum als ein allen zugängliches Gemeingut und traditionelles Sinnbild einer Zivilgesellschaft verunklart.[9]
Doch was macht dann eine Stadt jenseits ihrer gebauten Form aus?[10] Und wie müssen wir die Urban Commons in einer solchen Stadt in ihrer sozialen Dimension neu denken? Was eine Stadt ausmacht, ist unser Gemeinsam-Sein,[11] ist die Gemeinschaft, die allein dadurch entsteht, dass wir als StadtbewohnerInnen ihren Kräften und Mächten und ihrer urbanen Raumordnung ausgesetzt sind. Mit Jean-Luc Nancys inspirierendem Bildnis der „community of being“[12] im Hinterkopf, könnte die Gemeinschaft der StadtbürgerInnen gemeint sein, die, ihren Unterschiedlichkeiten zum Trotz, als Ganzes eine „gemeinschaffende“ inklusive Community darstellt.[13] Eine gebaute Dichte macht noch keine Stadt, sondern das soziale Phänomen Stadt wird erst durch die BewohnerInnen, ihre Interaktion, ihre Reibungen zum Leben erweckt. Stadt besteht aus sozialen Beziehungen, Machtausübungen, menschlichen Interessen und Ambitionen und ihren räumlichen Überlagerungen und Schichtungen. Eine solche Stadt, in denen Interessen und Realität in unterschiedliche Richtungen gehen, eine Stadt als Netzwerk sozialer Beziehungen, „ist Friktion, ist Spannung“,[14] und in einem solchen Spannungsfeld materielle oder immaterielle Commons zu erschließen oder zu gewährleisten, beinhaltet stets „informelle, chaotische Prozesse“.[15] Definiert man also Stadt in diesem Geiste, kommt man nicht umhin, eine Theorie über ihr soziales Gemeingut, das soziale urbane Commons zu entwickeln.
Kann die bauliche Konsequenz solcher Spannungen und Machtverhältnisse überhaupt einen Raum bieten, der wirklich für alle da ist, ein echtes Commons? Kann ein gebauter, architektonisch geplanter Raum als Ergebnis einer ökonomischen Kette an Planungen und gleichwohl auch als architektonische Form überhaupt jemals allen gleich zugänglich sein, also überhaupt ein echtes Commons darstellen? Kann ein Stadtraum das? Diese Frage legt schnell die Begrenztheit traditioneller Theorien über Commons in der Stadt offen. Die formale Programmierung der gebauten Stadt, also ihre bewusst geplanten, gestalteten und formalisierten Räume können mit Recht als etwas beschrieben werden, das „niemals allen zugute kommt“,[16] d.h. für alle Identitäten, alle Nutzungen offen ist. So Horst Rittel in einer Formulierung, die seine eigene legitime Diagnose des Dilemmas widerspiegelt, in dem sich Planung und Design ganz allgemein befinden. Selbst der noch so gut gestaltete und demokratisch geplante urbane Raum wirkt exkludierend gegenüber manchen – sei es physisch, rechtlich oder sozial. Um Commons im urbanen Raum zu finden, müssen wir den Begriff auf eine Ebene heben, die nicht den Beschränkungen von Planung und Gestaltung unterliegt, ihn von der physischen Infrastruktur ablösen. Commons, wie auch die Stadt selbst, kann man nicht entwerfen oder bauen, man kann sie zum Leben erwecken, performen, fördern, oder wenigstens passiv tolerieren.
Wenn wir die aktuell gängigen Theorien urbaner Commons infrage stellen, von ihnen verlangen mehr zu sein, als eine öffentliche Bedürfnisanstalt oder eine städtische Grünfläche mit der Erlaubnis zum Picknicken, wird vielleicht verständlich, was Hardin auf die (sonst wenig inspirierende) Idee einer „Tragedy of the Commons“[17] brachte. Seine Deutung, die Tragödie der Commons sei, dass sich niemand darum kümmere, eben weil sie allen zur Verfügung stünden, weshalb die Commons zur individuellen Ausnutzung einlüden und so in ihrer Zugänglichkeit beschränkt werden müssten, ist bei einer öffentlichen Bibliothek vielleicht noch der Ordnung halber vorstellbar. Doch missachtet sein Commons-Verständnis den inhärent inklusiven Charakter, den des Open Access. Die Beschränktheit dieser Theorie liegt in ihrem engen Verständnis von den Funktionen eines Commons, impliziert sie doch, dass es sich dabei um einen jeweils nur einem Zweck dienenden, programmierten Raum handelt: gemeinschaftlich als Viehweide genutztes Land, eine öffentliche Toilette, oder einen öffentlichen Park zur zivilisierten Freizeitbetätigung. Bei einem so engen Verständnis wird ein Commons wohl kaum als inklusiver Identifikationsraum für alle funktionieren.
Selbstverständlich kann man einen öffentlichen Park als urbanes Commons sehen – allerdings ist er das nicht als Eigentum einer öffentlichen Behörde, also ideell im Besitz aller, sondern wird zum Commons erst durch die vielfältigen Arten der informellen Aneignung des Parkraumes durch diverse Communities. Er mag für die Erholungs- und Freizeitaktivitäten eines Viertels geplant und durch Design und soziale Normen dafür formalisiert worden sein, „commonned“ wird er erst durch seine informelle Nutzung für die ungeplanten, vielfältigen, spontanen Aktivitäten jenseits des vorgesehenen Zwecks. Die Nutzung des Parks durch DemonstrantInnen, durch Gemeinschaften, die hier spontan ihre Religion ausüben, handeln oder streiten, durch SkateboarderInnen, die über seine Geländer und Brüstungen „grinden“, oder einfach Personen, die im öffentlichen Raum des Parks Arbeit suchen, anbieten, aushandeln oder verrichten – diese Prozesse informeller Aneignung konstituieren ein Commons; sie „gemeinschaffen“ den Raum. Das Beispiel der Arbeitssuche und des Anbietens der eigenen Arbeitskraft, oder gar der Ausübung von Arbeit im öffentlichen Raum ist insofern bezeichnend, als es zeigt, wie sehr allgemeine arbeitsbezogene Grundrechte, wie seine Interessen kollektiv zu vertreten, zu streiken, öffentlich zu versammeln etc., oft ganz konkret öffentlichen Raum benötigen. Doch existieren keine dafür geplanten öffentlichen Versammlungsräume, keine Parkbereiche für Arbeitslose und Randgruppen, um Gelegenheitsarbeiten zu finden, und das, obwohl die Internationale Arbeitsorganisation ILO viele arbeitsbezogene Rechte direkt an öffentliche Räume gebunden sieht.[18] Tatsächlich sind also einige fundamentale Grundrechte davon abhängig, dass öffentlicher Raum informell angeeignet wird, also gegen seine formale Bestimmung genutzt wird. Ja, ich möchte behaupten, dass der Park – um bei diesem traditionellen Beispiel eines urbanen Commons zu bleiben – überhaupt erst durch die Vielfalt der Nutzungsweisen, die ihm gegen seinen Zweck, gegen seine Gestaltung und seine Nutzungsbedingungen abgerungen werden, zum Commons wird.
Warum ist es wichtig, überhaupt über die Informalität der Raumaneignung nachzudenken? Weil wir auf das Zeitalter des „Urbanozäns“[19] zugehen, dem Zeitalter, in welchem fast die gesamte Menschheit in Städten leben wird. In einer Generation werden 6,3 Milliarden, d.h. sieben von zehn Menschen, StadtbewohnerInnen sein.[20] Viele soziale Auswirkungen dieser Urbanisierung sind bereits heute sichtbar: Der anhaltende rasante Anstieg der Wohnungspreise führt zu einer wachsenden sozialen Ungerechtigkeit allein durch sozial ungerechte Gefüge im Stadtraum.[21] Die in Städten zurückzulegenden Entfernungen werden immer größer aufgrund der Segregation des Wohnraums von anderen Lokalitäten des täglichen Lebens und erhöhen so die Attraktivität nicht-physischer Räume für das öffentliche Leben. StadtbewohnerInnen werden schlicht von potenziellen Orten der Identifikation disloziert. Die Kultur des gegenseitigen Wettbewerbs führt unweigerlich zur Vereinzelung des Individuums im Raumgefüge der Stadt und schwächt so die auch räumlichen Grundlagen von gemeinschaftlicher Identität und Demokratie, dem Zugehörigkeitsgefühl zu einem kollektiven „Wir“, da StadtbewohnerInnen schlicht die physischen Orte verlieren, an denen sie ihre gemeinschaftsstiftenden Narrative erleben.[22]
Während das Leben in Städten weithin als förderlich für die menschliche Entwicklung gesehen wird,[23] ist der dicht bebaute Raum auch Brutstätte der allgegenwärtigen Epidemie der sozialen Isolation, ist städtisches Leben meist das Sinnbild für die Abstraktheit und Entkörperlichung modernen Lebens. Angetrieben wird die Kultur der Optimierung städtischen Lebens vom neoliberalen Paradigma wirtschaftlichen Wachstums und vom traditionell kapitalistischen, mittlerweile allgegenwärtigen Dictum der Effizienz.[24] Die gebaute Umwelt formalisiert diese kompetitive Kultur und führt zu dem, was Hardt und Negri paradigmatisch als „Entsozialisierung des Gemeinschaftlichen“[25] beschrieben haben. Räumliche Dichte wirkt zudem als Brandbeschleuniger für viele der größten sozialen Herausforderungen im urbanen Raum. In Hongkong erreicht sie erschreckende Ausmaße: Sieben Millionen EinwohnerInnen bewohnen – aus historischen, ökonomischen und politischen Gründen – lediglich 26 Prozent der verfügbaren Landmasse. Das bebaute Gebiet ist begrenzt, hoch-verdichtet und schwer umkämpft, weshalb lediglich 3,8 Prozent seiner Fläche für Wohnraum genutzt sind.[26] In einigen Teilen der Stadt leben 400.000 EinwohnerInnen auf einem Quadratkilometer[27] –wogegen das am dichtesten besiedelte Viertel Londons nur 10.000 EinwohnerInnen pro Quadratkilometer aufweist. Im erbitterten Wettbewerb um den gebauten Raum, in dem Geschäftsinteressen über private Bedürfnisse siegen, reduzierte sich der private Wohnraum aufs Äußerste: Je nach Quelle beträgt die durchschnittliche Wohnungsgröße in Hongkong 43 Quadratmeter, was der Fläche von zwei Parkplätzen entspricht. Ein solcher urbaner Zustand geht zwangsläufig und dramatisch auf Kosten von individueller Privatsphäre und den vielseitigen Faktoren mentaler und körperlicher Gesundheit in der Stadt.
Teil dieser sozialen Fliehkraft der urbanen Gesellschaft ist, dass Raumfunktionen, die soziale Interaktion, Familienleben, gemeinschaftliche Identität fördern und traditionell im Wohnraum oder auf angrenzenden Fluren und Verandas ausgelebt wurden, heute auf programmierten öffentlichen Raum oder Shoppingmalls übertragen wurden. Vor allem im Wohnungsbau unterer und mittlerer sozialer Milieus, also bei jenen, die am stärksten dem ökonomischen Druck der Stadt ausgesetzt sind, verhindert die sterile Formensprache und die räumliche Programmierung jegliche unkontrollierte, informelle Durchmischung von privatem und öffentlichem Raum. Das Privatleben wird hinter verschlossene Wohnungstüren verbannt, das öffentliche Leben an Orte des Konsums oder restringierten Verhaltens kanalisiert. Die (sogenannten) „öffentlichen“ Plätze oder „Plazas“[28] sollen heute die sozialen Folgen der industriellen Produktion von Wohnraum und die Rückbildung privater Räume gesellschaftlich und sozial abfedern. Was unter ökonomischem Druck im Wohnungsbau keinen Platz hat, soll der öffentliche Raum wettmachen. Der wahrhaft öffentliche Raum, welchen progressive UrbanistInnen heute[29] zum Recht von StadtbewohnerInnen ausrufen (und der in moderner Stadtplanung auch nicht mehr vernachlässigt wird), steht insbesondere in Hongkong als Symbol für eine Entwicklung, in welcher gemeinschaftliche Güter und gesellschaftliche Ansprüche in Konsumgüter verwandelt werden.[30] Dafür spricht, dass heute neue öffentliche Räume, meist nur im Tauschhandel mit noch größeren Raumgewinnen für wenige entstehen, wie Hongkongs berühmt-berüchtigte POSPDs[31].
Symptomatisch für einen globalen Trend ist wiederum die bereits erwähnte gebaute Ikone für Hongkongs hegemoniale Wirtschaftsmacht, der Turm der HSBC-Bank im Bezirk Central. Hier wurde der Bank ein „Bonus“[32] (nota bene die Sprache) von zusätzlichen 14.801 Quadratmetern[33] der wertvollsten Ressource der Stadt – Raum – genehmigt, im Tausch gegen die Zugänglichmachung des Erdgeschosses (ca. 20 Prozent der Bonusfläche), als stark kontrollierte und überwachte Fußgängerpassage. Die Stadt, in welcher 80 Prozent des BIP[34] auf Milliardärsvermögen entfallen (vorwiegend die der mächtigen Immobilien-Tycoons), führte noch in 2014 den Crony Capitalism Index des Economist an, dem weltweiten Ranking der am meisten von Nepotismus und privaten Seilschaften regierten Städte. Im Schatten dieser Spitzenposition beträgt die durchschnittliche Wartezeit für eine erschwingliche Wohnung in einem öffentlichen Wohnbau heute rund sechs Jahre.[35]
Diese Dynamik in dichten Städten ist Ausdruck für eine zeitgenössische sozio-räumliche Dialektik, wonach das Regime aus Politik und Business den urbanen Raum formt und umgekehrt vom Raum geformt wird.[36] Das unterstreicht die politische Dimension der Commons, da es im Machtverhältnis zwischen BürgerInnen, Wirtschaft und Politik die Frage nach der Souveränität auf den Plan ruft. Es erinnert uns daran zu fragen, wer die Kontrolle über die Ressourcen der Stadt besitzt, und wer die Aneignung des Raums von den einen durch andere verhindert. Ein Kräftemessen um die Souveränität über den Stadtraum ist zweifellos ein Beleg für Ambrose Kings soziologischen Befund, nach welchem rasche Urbanisierung zu einer Politisierung apolitischer Schichten führt.[37] In der neueren Geschichte Hongkongs zeigt sich das an einer ganzen Historie an urbanen Konflikten, die Ausdruck konkurrierender Stadtanschauungen[38] sind: der Hijacking Public Space-Bewegung um die Times Square-Mall 2008, der großen antikapitalistischen Occupy Central-Bewegung von 2011, der breiten prodemokratischen Regenschirmbewegung von 2014, die monatelang den Highway in Central blockierte und den diesjährigen Massenprotesten, die sich zu einem Protest gegen die politische Kultur der Stadt insgesamt und deren Auswirkungen auf das tägliche Leben ihrer BewohnerInnen ausweiten.
Der öffentliche Raum hat hierbei – das ist wohl in jedem Demokratieverständnis westlicher Deutung unbestritten– die essenzielle Funktion, das Sichtbarmachen politischer Forderungen zu erlauben, als sichtbares Forum, Bühne und „Raumwerdung“ des sonst abstrakten Grundrechts der Versammlungs-und Meinungsfreiheit. Doch ist es entscheidend, in Betrachtung der Social Urban Commons-Theorie und der Stadtkonzeption dieses Essays, die Prozesse zu bedenken, die Informalität, mit welcher der Stadtraum im Zuge dieses Souveränitätskampfes informell angeeignet wird. An den politischen Protesten in Hongkong lässt sich die Frage der Souveränität gut theoretisch verdeutlichen: Wenn etwa die Versammlungsfreiheit – die fundamentale Freiheit aller BürgerInnen in einer Demokratie – zu ihrer Ausübung einen physischen Ort benötigt, bedürfen dann Versammlungen des Schutzes durch den Staat, oder bedürfen sie des Schutzes vor dem Staat durch das Volk?[39] Die Frage, ob die Souveränität in der räumlichen Artikulation von Forderungen in einer Stadt dem Volk oder dem Staat zukommt, verweist mithin auf den wesentlichen Beitrag, den Widerstand gegen die Normen, Gesetze oder architektonisch codierten Formalismen eines Systems leisten. Der Protest im Stadtraum als eine Form der angeeigneten Souveränität der StadtbürgerInnen stärkt einen Prozess der „reflexiven Selbsterschaffung“ von Communities, der „unabhängig ist von dem repräsentativen Regime, das es legitimiert“.[40]
Widerstand, auch jener gegen die architektonisch codierten Formalismen der Stadt, wie das Blockieren wichtiger Straßen, durch das Errichten von Barrikaden oder ihre Überflutung mit Millionen Menschen, wird zu einer Praxis, mit welcher das gesellschaftliche „Kapital“ des Stadtraumes als Commons erschlossen und, in diesem Fall, der Vielklang unterschiedlicher politischer Ansichten verräumlicht wird. Das untermauert Hershkovitz’ These über die Aneignung symbolträchtiger politischer Räume, wie etwa den Tiananmen-Platz in Peking. Ebenso wie dort beruht auch im Fall von Hongkong „die Macht oppositioneller Bewegungen […] auf deren Fähigkeit, sich ‚den Raum des anderen‘ anzueignen.“[41] Werden Commons in der Literatur meist als „kollektiv geteiltes Eigentum“[42] definiert, so sage ich, dass der informelle Prozess des Widerstands, die dadurch errungene Souveränität, zu einer Art kollektiv geteiltem Eigentum wird.[43] Widerstand erweist sich als ein räumliches Potenzial, das, abstrakt betrachtet, allen zugänglich ist. Es wird von Demonstrierenden, die eine Straße blockieren, ebenso in Anspruch genommen wie von SkaterInnen, die sich Verhaltensregeln widersetzen und ein Geländer zum Sportgerät umdeuten. Auch wenn ich mich keineswegs für die Abschaffung von Gesetzen oder die Missachtung selbstverständlicher sozialer Normen ausspreche, so möchte ich doch behaupten, dass innerhalb des Systems widerstreitender Kräfte, das eine Stadt ausmacht, oft erst der abstrakte Widerstand durch eine Minderheit die räumliche Koexistenz diverser Positionen, Interpretationen und Identitäten im urbanen Raum fordert und gewährleistet. Manche WissenschaftlerInnen (wie etwa Nicholas Blomley[44]) betrachten den Widerstand – z.B. gegen die Eingrenzung eines Commons – lediglich als Beweis für die Existenz desselben. Ich behaupte darüber hinaus, dass der Widerstand selbst die Grundeigenschaften für ein Commons erfüllt. Es ist oft der Widerstand und nicht das Design oder die Planung, wodurch der „offene Zugang“ zu einem Raum gewissermaßen informell erkämpft wird. Dieser „offene Zugang“ zum Stadtraum findet sich nicht nur in der Definition von Commons, sondern ist ein „zentraler sozialer Wert, der aus offenen demokratischen Gesellschaften erwächst“.[45] Erst durch Widerstand wurde der Raum in seiner Funktion, allen ein Indentifikationsort sein zu können, gemeingeschaffen.
Widerstand äußert sich in der Dichte Hongkongs auch jenseits der politischen Dimension in vielfältiger Praxis, vielleicht sogar am eindringlichsten im Umfeld der Wohnungskrise. In Hongkong sind die Wohnungspreise im Lauf der letzten 15 Jahre um 445 Prozent gestiegen,[46] was die Stadt nach dem Annual Demographia International Housing Affordability Survey von 2019 zur unerschwinglichsten der Welt macht.[47] Angesichts dieses Konkurrenzkampfs um den urbanen Raum wird die informelle Aneignung von Zwischenräumen, von Dächern, Unterführungen, Hinterhöfen und anderen kommerziell unkultivierbaren urbanen Nischen, oft zur einzigen Möglichkeit für StadtbewohnerInnen, der dominanten Maschinerie industrieller Wohnraumproduktion und ihren Folgen zu entkommen. Allein das Ausmaß der Slums auf Hongkongs weitläufigen Dachlandschaften tausender Hochhäuser erzählt etwas davon, wie Widerstand urbane Commons ins Leben ruft: Die Tausenden informeller, illegal gebauter, dicht an dicht stehender Hütten und oft gar mehrstöckiger Behausungen auf den ausgedehnten, miteinander verbundenen, besetzten Dächern in den zentralsten Vierteln der Stadt bilden dörfliche Strukturen des Zusammenlebens. Losgelöst vom regulären Immobilienmarkt, erbaut aus Blech, Ziegeln und Plastik, Strom und andere Infrastruktur teilend, erschaffen sie reale Alternativen zur Frage des Besitzes und des Zugangs zu Ressourcen. Während Raum selbst eine „subtraktive Ressource“[48] ist, wie Elinor Ostrom definiert,[49] ist der Widerstand, der mittels der informellen Raumaneignung zum Ausdruck gebracht wird, keineswegs subtraktiv, sondern ein Symbol für die erkämpfte Koexistenz von mehr als nur einem dominanten System der Wohnraumproduktion in der Stadt und damit fundamental additiv. Auch in diesem Fall ist der Widerstand eine Praxis des Gemeinschaffens der Stadt. Auch wenn es mir fern liegt, benachteiligte soziale Umstände formal zu fetischisieren, so können diese Zehntausende alternativer Lebensformen doch als ein Beispiel für eine veritable Partizipation an der Frage dienen, was die Stadt „sonst noch“ sein kann.
Diese informellen Wohnsiedlungen über den Dächern der Millionenmetropole, die während der großen Immigrationswellen seit den 1970er Jahren rasch zugenommen haben, erringen das Nebeneinander alternativer Methoden der Wohnraumschaffung unter extremem urbanem Druck und fügen dem Interpretationsspektrum der Stadt informellere, autonomere, provisorischere, heterogenere, weniger sterile, „gezähmte“ und kontrollierte Räume hinzu. Sie bilden eine Antithese zu den herrschenden Produktionsweisen, indem die Architektur aus Materialien entsteht, die zur Hand sind, sich die Bauformen kontinuierlich ändern. Sie werden von ihren BewohnerInnen errichtet und erhalten. Dabei wird alles zu Baumaterial, jeder ist ArchitektIn und die BewohnerInnen selbst werden zu StadtplanerInnen. In Anlehnung an die wachsende Literatur über den wichtigen Beitrag informeller Bauformen und Siedlungen zur Frage des Umgangs mit der rasenden Urbanisierung weltweit, kann man sagen, dass solche alternativen Praktiken der Wohnraumbeschaffung Handlungsmacht und schlicht physischen Raum für Gruppierungen schaffen, die sonst an die vernachlässigten Ränder der Stadt verdrängt würden.[50] In Hongkong haben sich BürgerInnen mit dem Besetzen und informellen Bebauen von Dächern äußerst zentral gelegener Stadtviertel den theoretisch wertvollsten Raum der Stadt angeeignet. Diese alternativen Formen des Wohnens erinnern uns daran, dass wir lernen müssen, „über das räumliche Durcheinander, den scheinbaren Schmutz und die improvisierte Ästhetik hinauszuschauen und die ökonomische Resilienz, den sozialen Zusammenhalt, die Autonomie, den technischen Einfallsreichtum und die bemerkenswerten Alltagsfähigkeiten zu erkennen, die oft in informellen Siedlungen gedeihen.“[51] Die informelle Raumaneignung, die für Zehntausende StadtbewohnerInnen Wohnraum schuf, erkämpfte dem dichten sozialen Netzwerk der Stadt auch einen „sozialen Atemraum“[52] zurück. Der Widerstand, der den informellen Wohnformen innewohnt, ist also ebenso eine Praxis des Gemeinschaffens von urbanem Raum, ein Urban Commons.
Unter Einfluss dieser angespannten Wohnverhältnisse, der kompetitiven Kultur um Raum und dem kritischen Mangel an wahrhaft öffentlichen Räumen erodieren auch die essenziellen Faktoren, die das Empfinden eines „Zuhauses“ schaffen, als einem Ort der individuellen oder kulturellen Entfaltung. Mit dem Aufstieg Hongkongs als internationalem Finanzzentrum und den steigenden Lebenskosten wächst seit Jahrzehnten der Anteil der Doppelverdienerhaushalte. Diese gesellschaftliche Neuordnung führte zur Immigration von mehreren hunderttausend Haushaltskräften – primär von den Philippinen – nach Hongkong, die aufgrund lokaler Gesetze in den Wohnungen ihrer ArbeitgeberInnen unterkommen müssen. In einer Stadt, in der Raum die knappste Ressource ist, hat dies zu eklatanten Verletzungen der fundamentalsten Lebensbedingungen dieser großen migrantischen Community geführt: Gezwungen, auf dem Boden, im Gang oder in der Küche der ohnedies zu kleinen Wohnungen ihrer ArbeitgeberInnen zu schlafen, werden Hundertausende ihrer Privatsphäre und ihrer kulturellen und individuellen Entfaltungs- und Ausdrucksmöglichkeit beraubt. Diese Umstände räumlicher, kultureller und sozialer Deprivation haben eine einzigartige Praxis des Widerstands gegen das Raumregime und die architektonisch codierten Verhaltensnormen der modernen Stadt entstehen lassen: Jeden Sonntag besetzen in Hongkong 400.000 philippinische Hausangestellte (d.h. einer von zwanzig BewohnerInnen der Stadt) im Finanzdistrikt friedlich sämtliche Fußgängerübergänge und -unterführungen, Verkehrsinseln, Treppenaufgänge oder Eingangsbereiche von Bankentürmen und Shoppingmalls, ja sogar ganze Straßen. Durch das Errichten Tausender temporärer Kartonbehausungen. leben sie jene Privatsphäre, Wohnlichkeit und Autonomie informell nach, die ihnen an sechs von sieben Tagen der Woche verwehrt werden (Abb. 1–5). Diese großflächige informelle Aneignung von Raum ist ein Akt einer informell errungenen Partizipation an der Stadt und ihrer Öffentlichkeit. Sie erschließt die Stadt als Commons, nicht nur räumlich, sondern auch gesellschaftlich: Durch die Sichtbarmachung einer sonst unsichtbaren Community wird die gesamte soziale Dimension eines komplexen Systems an Macht-, Arbeits- und Familienverhältnissen für alle öffentlich sichtbar. Jeden Sonntag, an ihrem einzigen freien Tag, von frühmorgens bis spätnachts, wird die urbane Landschaft aus Bankentürmen, Straßen und Shoppingmalls von philippinischen Hausangestellten neu interpretiert, indem sie der Architektur des Kosmopolitismus die urbane Assemblage ihrer temporären „transnationalen“[53] Architekturen aus Pappe und Koffern gegenüberstellen.
Mit der Besetzung eines Großteils der öffentlichen Fußgängerbereiche von Central beanspruchen, kontrollieren und schaffen sie Räume, die mit dem nationalen Imaginären[54] Hongkongs ebenso verbunden sind wie mit dem der Philippinen. Die zwischen zwei und dreißig Quadratmeter großen räumlichen Strukturen bestehen meist aus einem auf dem Boden liegenden Karton und Kartonwänden, gehalten durch an Decken oder Geländern befestigten Drähten oder Schnüren, oft gar mit einer Dachkonstruktion aus Stoffen. Sich kilometerweit über Fußwege, Treppen und unter Brücken erstreckend, ergeben die vielen tausend Kartonbehausungen eine „Stadt in der Stadt“. Aus urbanistischer Sicht handelt es sich bei dieser Kongregation nicht nur um eine soziale Zusammenkunft. Es ist eine ephemere, informelle Stadt, einzig und allein dazu errichtet, einer Community, in der keine/r über ein eigenes privates Heim verfügt, vorübergehend häusliche Raumqualitäten zu ermöglichen – Privatsphäre, gemeinsames Verzehren eines selbstgekochten Mahls, Filmeschauen, Freunde einladen. In diesen behelfsmäßigen vier Wänden wird ein Phantasma[55] privaten Wohnens in der Öffentlichkeit arrangiert: Schuhe werden „vor der Tür“ abgestellt, verschiedene Ecken unterschiedlichen Funktionen, vom Essen zum Schlafen, gewidmet, und die Menschen in den angrenzenden vier Wänden werden für einen Tag lang zu NachbarInnen. Zusammen bilden diese Assemblagen eine temporäre urbane „Enklave“ mit ihrer eigenen Bebauungsdichte, ihrer eigenen architektonischen Artikulation, ihren eigenen (Pappe-)Grenzen zwischen öffentlichem Raum und privatem Raum.[56] Es ist eine informelle Praxis, die durch diese Form der Raumaneignung ein gewisses Maß an Souveränität über fundamentale häusliche und soziale Qualitäten und Aktivitäten zurückgewinnt: Der Tag wird schlafend oder Karaoke singend verbracht, es werden Güter und Gerüchte getauscht im Netzwerk dieser temporären Stadt, die nachts wieder abgebaut wird und spurlos verschwindet, den BankerInnen und Geschäftsleuten weichend, die den Raum nur wenige Stunden später wieder beherrschen. Die Community zerstreut sich erneut in die beengten Wohnverhältnisse, die ihnen auch noch Arbeitsstätte sind, einer von zehn gezwungen, in der Küche, auf der Toilette oder in einem Winkel des Wohnzimmers zu schlafen.[57] Obwohl die temporär angeeigneten Bereiche öffentliche und in Privatbesitz befindliche Räume sind, wurde dieser großflächigen informellen Raumaneignung von Regierung und Unternehmen ein überraschendes Maß an Toleranz entgegengebracht;[58] man ermutigt sie weder, noch verbietet man sie wirklich. Vielmehr wurden an einigen Orten die öffentlichen Schilder pragmatisch um Tagalog, die Sprache der PhilippinerInnen, erweitert[59] und damit die errungene Verbindung der Community mit diesem Raum praktisch legitimiert.
Es sind ein und dieselben Straßen, die samstags von DemonstrantInnen, sonntags von Hausangestellten und montags von BankerInnen besetzt sind. Mitunter überlappend, werden der Erfahrung der Stadt periodisch zusätzliche Schichten verschiedener Identitäten, Ansprüche und Realitäten hinzugefügt. Der Prozess und die Fähigkeit, im urbanen Raum in Erscheinung zu treten und sich der Programmierung einer homogenen Vorstellung von anständigem Verhalten in der Öffentlichkeit zu widersetzen, transformiert den Stadtraum in ein Commons. Die Zusammenkunft von Menschen in Räumen artikuliert die komplexen Forderungen der Community allein durch ihre Präsenz, auch ohne Sprechchöre, ohne Agenda oder konzertierte Aktionen, durch nicht mehr als ein „Dortsein“.[60] Dieses Gemeinschaffen, dieses Commoning, ist wie allerorts, ein „chaotischer, fragmentierter Prozess der Transformation“,[61] wie Gibson-Graham et al. schreiben. Das Chaotische, Fragmentierte eines solchen Prozesses ist das, was die hierin entwickelte Würdigung des Informellen, alles Ungeplanten und Errungenen als Prozess des Commoning nachhallen lässt.
Dieses Beispiel aus der speziellen urbanen Situation des heutigen Hongkong zeigt, wie Widerstand und Commons –informelle Prozesse der Stadtaneignung gegen die Programmierung durch die hegemonialen Kräfte von Politik- und Finanzmacht oder architektonisch codierte Normen – durch Zug und Druck von passiver Toleranz und proaktiven Prozessen zustande kommen: Getrieben von einem Mangel an echtem öffentlichen Raum, hat der BürgerInnenprotest die gebaute Umwelt und ihre Narrative durch deren Besetzung physisch verändert und ist damit genauso ein Beleg für eine solch informell beanspruchte Souveränität wie die informellen Behausungen auf den zentralsten Dächern, die das Spektrum von möglichen Wohnformen außerhalb der mächtigen Systeme zumindest erweitern. Gleiches belegt am frappantesten auch die Community der Hausangestellten: In angespannten urbanen Verhältnissen vermochte nur die Praxis des Widerstands, die informelle Besetzung von Raum, dieser Community ihren rechtmäßigen Platz im Ringen um den knappen Raum zu verschaffen, wo selbst öffentliche Plätze privatisiert sind. Bei allen drei Phänomenen ist die Vielfalt, die Koexistenz, die Heterogenität der Räume, ihre errungene Offenheit das Ergebnis einer räumlich artikulierten Debatte, bei der Erringen und Erringen-Lassen ein informelles Gleichgewicht in einem ansonsten von Kontrolle dominierten System erhalten. Das zeigt, dass die Dinge „auf die Straße zu tragen“ mehr ist, als nur eine Metapher für öffentliche Unmutsbekundungen. Die Straße, die gebaute Umwelt der Stadt, ihre Architektur und ihr öffentlicher Raum werden zu AkteurInnen in der demokratischen Performativität von Gesellschaft überhaupt.[62] Die informelle Aneignung von Räumen sorgt also dafür, dass Forderungen und Realitäten ernst genommen und zur Rechenschaft gezogen werden können, indem sie Reibungen nicht verbannt, sondern zulässt oder sogar erzeugt.63 Die Stadt wird – jenseits demokratischer Partizipation im politischen Sinn – insgesamt partizipatorisch, wenn sie die informelle Aneignung und Reinterpretation physischer Orte durch ihre verschiedenen Communities zulässt.
StadtplanerInnen und PolitikerInnen, ArchitektInnen und ImmobilienentwicklerInnen müssen endlich erkennen, dass dies ein wesentlicher Beitrag zum sozialen Zusammenhalt in der Stadt ist. Gemeinschaffen des sozialen Gewebes der Stadt heißt, die Stadt als Commons zu begreifen. Diese Theorie bedeutet nicht, dass ich die politische Verantwortung für das Regieren der Stadt mindern möchte oder Akte destruktiver Gewalt bei informellen Aneignungen befürworte, sie versteht sich vielmehr als Verneigung vor alternativen Interpretationsweisen von Stadt, als Verneigung vor dem Nichtgeplanten, allem informell Errungenen. Wie sollen wir also mit den herausfordernden Friktionen umgehen, die der hier geführten Definition von Stadt inhärent sind? Während moderne Megacities unserer Zeit Friktionen meist mit Polizei und Policy bekämpfen, möchte ich daran erinnern, dass es die Haltung des Gewähren-Lassens ist, oft auch das Nicht-Handeln, das Nicht-Erzwingen, das Tolerieren von Koexistenz und Nebeneinander im Umgang mit urbanen Friktionen, was soziale urbane Commons entstehen lässt und so zur Resilienz, Diskursivität und Offenheit einer jeden Stadt beiträgt. Wird das erkannt, kann und muss die Stadt zum abstrakten höheren Repräsentanten der in ihr geborgenen Vielfalt werden.
Übersetzung: Wilfried Prantner
[1] Während der Begriff „Commons“ den meisten aus der politischen Ökonomie bekannt sein dürfte, als eine allen Mitgliedern einer Gesellschaft zugängliche Ressource (ein materielles oder räumliches Gemeingut wie ein öffentlicher Park oder ein immaterielles wie eine Sprache), meint das Verb commoning – im Deutschen meist als „Gemeinschaffen“ übersetzt – den Prozess, durch den eine Gesellschaft oder Gemeinschaft eine Ressource in eine gemeinsam bewirtschaftete verwandelt.
[2] Vgl. Lo Ka Man, Claire: „A Critical Study of the Public Space in Hong Kong“, Vortrag im Rahmen des MCS Symposiums, Lingnan Universität Hongkong, 23. Februar 2013.
[3] Ebd., 4 (wo aus der chinesischen Originalquelle zitiert wird).
[4] Xue, Charlie/Manuel, Kevin: „The Quest for Better Public Space. A Critical Review of Hong Kong“, in: Miao, Pu (Hg.): Public Places in Asia Pacific Cities, Boston 2001, 185.
[5] Ein in Hongkong vielbenutzter Ausdruck für die Kolonialzeit. Populär wurde er in den späten 1960er Jahren, nach der Veröffentlichung von Richard Hughes Buch Hong Kong: Borrowed Place – Borrowed Time, New York 1968.
[6] Vgl. Lo Ka Man: „A Critical Study of the Public Space in Hong Kong“ (wie Anm. 2).
[7] Vgl. Al, Stefan (Hg.): Mall City: Hong Kong’s Dreamworlds of Consumption, Honolulu 2016 (Klappentext).
[8] Ebd., 7.
[9] Vgl. Cuthbert, Alexander/McKinnell, Keith: „Ambiguous Space, Ambiguous Rights: Corporate Power and Social Control in Hong Kong“, Cities 14, 5 (1997), 295–311, hier 302.
[10] Mit der Frage, was eine Stadt überhaupt ausmacht, muss man auch einräumen, dass diese nie frei von westlichen Auffassungen von Stadt, Freiheit und Demokratie sein kann. Selbst wenn sich in westlichen Städten vielfach, wenn auch in geringerem Ausmaß und nicht so intensiv, die gleichen Phänomene ausbilden wie die für Hongkong beschriebenen, wird ein solcher Ansatz unvermeidlich von einem westlichen Blick auf eine östliche Stadt gefärbt sein. Ich fordere also dazu auf, Begriffe wie „Freiheit“, „Demokratie“ und selbst „Stadt“ (so das möglich ist) nicht nur in einem engen politischen oder kulturellen Sinn, sondern auf einer Metaebene zu verstehen: als Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen, offen für verschiedene Lesarten und nicht an konkrete kulturelle Definitionen gebunden.
[11] Vgl. Nancy, Jean-Luc: „Of Being-in-Common“, in: Miami Collective (Hg.): Community at Loose Ends, Minneapolis 1991, 1–12.
[12] Ebd., 1.
[13] Nancy definiert „Sein“ als das stärkste aller Commons, schafft es doch eine „Gemeinschaft von Seienden“, trotz aller Differenzen, einfach durch ihr Sein. Vgl. ebd.
[14] Unteidig, Andreas/Domínguez Cobreros, Blanca/Calderón Lüning, Elizabeth/Joost, Gesche: „Digital Commons, Urban Struggles and the Role of Design“, Design Journal 20 (2017), 3106–3120 (Übers. Wilfried Prantner).
[15] Gibson-Graham, J.K./Cameron, Jenny/Healy, Stephen: „Commoning as a Postcapitalist Politics“, in: Amin, Ash/Howell, Philip (Hg.): Releasing the Commons: Rethinking the Futures of the Commons, London/New York 2016, 20.
[16] Rittel, Horst: The Reasoning of Designers, Montreal 1987, 7 (Hervorhebung vom Autor).
[17] Hardin, Garrett: „The Tragedy of the Commons“, Science 162 (1968), 1243–1248.
[18] Vgl. Tajgman, David/Curtis, Karen: Freedom of Association. A User’s Guide-Standards, Principles, and Procedures of the International Labour Organization, Genf 2000.
[19] Der erst kürzlich vom Physiker Geoffrey West in seinem Buch Scale. Die universalen Gesetze des Lebens von Organismen, Städten und Unternehmen (2017; dt. von Jens Hagestedt, München 2019) geprägte Begriff wird im akademischen Kontext zunehmend diskutiert.
[20] UN World Urbanization Prospects 2018.
[21] Vgl. Soja, Edward: „The City and Spatial Justice“, Spatial Justice 1 (2009), online unter: https://web.archive.org/web/20100702145709/http://www.jssj.org/media/jssj_focus.pdf (Stand: 12. Dezember 2019).
[22] Vgl. Parkinson, John: Democracy and Public Space: The Physical Sites of Democratic Performance, Oxford 2012.
[23] Vgl. Harries, Emma: „Social Isolation and its Relationship to the Urban Environment“, Research to Practice Paper, McGill University, Montreal 2016.
[24] Vgl. Rittel, The Reasoning of Designers, 158 (wie Anm. 16).
[25] Hardt, Michael/Negri, Antonio: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Übers. Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt am Main 2010, 270.
[26] Vgl. Hong Kong Planning Department, online unter: https://www.pland.gov.hk/pland_en/tech_doc/hkpsg/full/index.htm (Stand: 12. Dezember 2019).
[27] Vgl. Yeh, Anthony: „High-Density Living in Hong Kong“, in: Burdett, Ricky/Taylor, Myfanwy/Kaasa, Adam (Hg.): Cities, Health and Well-Being, London/Berlin 2011, 31, online unter: https://lsecities.net/wp-content/uploads/2011/11/2011_chw_3050_Yeh.pdf (Stand: 12. Dezember 2019).
[28] Um einen zeitgenössischen Begriff zu verwenden, der für mich nie den Geruch nach Immobilienprospekten und Shoppingmalls verliert.
[29] Zum Beispiel Gregory Smithsimon.
[30] Vgl. Butler, Judith: Notes Towards a Performative Theory of Assembly, Cambridge 2015, 159.
[31] Abkürzung für „Public Open Space in Private Development“.
[32] Yu, Yang: „The Changing Urban Political Order and Politics of Space: A Study of Hong Kong’s POSPD Policy“, Urban Affairs Review 51, 4 (2018), 732–760.
[33] Ebd., 744.
[34] Ebd., 741.
[35] Vgl. Ng, Naomi: „Waiting Time for A Hong Kong Public Housing Flat Longest in 18 Years“, South China Morning Post, 10. August 2018, online unter: https://www.scmp.com/news/hong-kong/community/article/2159237/waiting-time-hong-kong-public-housing-flat-longest-18-years (Stand: 2. Dezember 2019).
[36] Vgl. Yu: „The Changing Urban Political Order“, 734 (wie Anm. 32).
[37] Vgl. King, Ambrose Yeo-chi: „Administrative Absorption of Politics in Hong Kong. Emphasis on the Grass Roots Level“, Asian Survey 15, 5 (1975), 422–439, hier 438.
[38] Stadtanschauungen ist ein Update des Begriffs Weltanschauungen für die großen, auf die ganze Welt bezogenen politischen Ideologien. Dagegen deutet der Begriff Stadtanschauungen an, dass die großen politischen Ideologien sich heute am deutlichsten in der Politik des urbanen Raums zeigen.
[39] Vgl. Parkinson, Democracy and Public Space (wie Anm. 22).
[40] Butler, Notes Towards a Performative Theory of Assembly, 171 (wie Anm. 30, Übers. Wilfried Prantner).
[41] Hershkovitz, Linda: „Tiananmen Square and the Politics of Place“, Political Geography 12 (1993), 395 (Übers. Wilfried Prantner).
[42] Huron, Amanda: „Working with Strangers in Saturated Space. Reclaiming and Maintaining the Urban Commons“, Antipode 47, 4 (2015), 963–979, hier 963.
[43] Vgl. Williams, Miriam: „Urban Commons Are More-Than-Property“, Geographical Research 56, 1 (2018), 16–25.
[44] Blomley, Nicholas: „Enclosure, Common Right, Property of the Poor“, Social & Legal Studies 17, 3 (2008), 311–331.
[45] Bruun, Maja: „Communities and the Commons. Open Access and Community Ownership of the Urban Commons“, in: Borch, Christian/ Kornberger, Martin (Hg.): Urban Commons: Rethinking the City, Milton Park 2015, 153–170, hier 156.
[46] Vgl. Zhao, Shirley: „Law and Crime – One in Four Hong Kong Properties Has Illegal Structures, but Most Owners Get Away with Their Misdeeds“, South China Morning Post, 22. Januar 2018.
[47] Annual Demographia International Housing Affordability Survey (2019).
[48] Ostrom, Elinor: „Beyond Markets and States. Polycentric Governance of Complex Economic Systems“, American Economic Review 100, 3 (2010), 641–672.
[49] Vgl. dazu auch Huron: „Working with Strangers in Saturated Space“ (wie Anm. 42) oder Hubbard, Phil: „Sex Zones: Intimacy, Citizenship and Public Space“, Sexualities 4, 1 (2001), 51–71.
[50] Vgl. dazu Anm. 10, da die meisten derartigen Kommentare über informelle Behausungen einen westlichen Standpunkt repräsentieren, wie etwa der in der nächsten Anmerkung angeführte Artikel des Weltwirtschaftsforums, der, meiner Meinung nach, der Inbegriff einer vom westlichen Kapitalismus bestimmten Weltanschauung ist. Das hebt die Gültigkeit des Arguments zwar nicht auf, soll aber doch nicht unerwähnt bleiben.
[51] Cairns, Stephen: „What Slums Can Teach Us About Building the Cities of the Future“, World Economic Forum, 2019, online unter: https://www.weforum.org/agenda/2019/03/why-slums-could-provide-the-housinginspiration-of-the-future/ (Stand: 12. Dezember 2019).
[52] Shaw, Pamela/Hudson, Joanne: The Qualities of Informal Space. (Re)Appropriation Within the Informal, Interstitial Spaces of the City, Tagungsberichte zur Konferenz „Occupation: Negotiations with Constructed Space“, 2.–4. Juli 2009, University of Brighton 2009.
[53] Law, Lisa: „Defying Disappearance. Cosmopolitan Public Spaces in Hong Kong“, Urban Studies 39, 9 (2002), 1625–1645, hier 1629.
[54] Der Begriff des „Imaginären“ bedarf hier einer Definition: Aus der Soziologie kommend, wo meist vom „sozialen Imaginären“ die Rede ist, verweist er darauf, wie eine Gruppe von Menschen, in diesem Fall philippinische StaatsbürgerInnen, das soziale Ganze ihrer Community durch ein gemeinsames Verständnis sozialer Codes, Gesetze, Institutionen und Symbole begreift. Vgl. auch Law: „Defying Disappearance“ (wie Anm. 53).
[55] Aristotelisch gesprochen meint ‚Phantasma“ ein ‚inneres Bild“ von etwas Vorgestelltem, Erdachtem.
[56] Vgl. auch Anm. 53.
[57] Vgl. Hincks, Joseph: ‚In the World’s Most Expensive City, 1 in 10 Maids Sleeps in a Kitchen, Toilet, or Corner of the Living Room“, Time Magazine, 19. Mai 2017, online unter: https://time.com/4775376/hong-kongmigrant-workers-maids-helpers-conditions/ (Stand: 12. Dezember 2019).
[58] Strenggenommen erst nach Jahrzehnten und einer Reihe rechtlicher Versuche, das Phänomen in andere Gegenden umzusiedeln, die aber nicht erfolgreich waren.
[59] Vgl. Tillu, Jasmine: „Spatial Empowerment: The Appropriation of Public Spaces by Filipina Domestic Workers in Hong Kong“, Master Thesis, MIT 2011.
[60] Vgl. Gibson-Graham: „Commoning as a Postcapitalist Politics“, 171 (wie Anm. 15).
[61] Ebd.
[62] Vgl. auch Anm. 10.