Dieser kurze Essay ist eine Reflexion über Territorien und (interpretatorische) Blicke. Der von mir verwendete Titel ist ein Zitat aus Baudrillards Amerika.[1] Er erinnert gerade heute an die dringende Notwendigkeit, die intellektuelle Arbeit von ArchitektInnen und PlanerInnen wieder mit der Wirklichkeit und ihrem Geheimnis zu verbinden.[2] Genauer gesagt, ist dies ein Versuch, zu klären, wie wir arbeiten, was wir tun, um eine Untersuchung über den Raum zu beginnen, wenn genau dieser Raum, den wir erforschen und verstehen wollen, weit über den Rahmen dessen hinausgeht, was wir vollständig verstehen können, wenn unsere Kapazitäten eindeutig unzureichend sind, um seine Komplexität zu erfassen. Wenn unsere traditionellen Instrumente inadäquat erscheinen und unsere Zeit stark begrenzt ist. Wenn die Dimensionen gewaltig sind und weit über die Domäne der Architektur und der Stadtforschung hinausgehen. Wenn das Problem in der Tat nicht mit den uns zur Verfügung stehenden Instrumenten gelöst werden kann. Ich glaube, dass wir häufig unter ähnlich unvollständigen Rahmenbedingungen handeln, gestalten und Entscheidungen treffen. Der Fall, den ich hier betrachten werde, ist einfach ein extremer: aufgrund der immensen Schwierigkeiten, ihn aus sozialer und wirtschaftlicher Sicht zu fassen, trotz des enormen Forschungsaufwands für soziale und wirtschaftliche Aspekte, aufgrund der Schwere der ihn betreffenden ökologischen Krise, obwohl bereits beträchtliches Wissen vorliegt und seine vom Menschen geschaffenen Umweltprobleme in hohem Maße angeprangert werden. Und nicht zuletzt aufgrund der Fragmentierung und Knappheit der Studien über seinen Raum, seine physischen Konfigurationen in Bezug auf soziale, ökologische und ökonomische Fragen: den Raum, in dem wir leben und mit dem wir leben. Raum als Kapital, Raum als Träger, der Raum des Zusammenlebens. Genau in diesem Raum stellt Amerika der europäischen Tradition der Utopie eine „empirische Radikalität entgegen, der es dramatische Konkretheit verleiht.“[3] Dieser Beitrag ist auch die Fortsetzung einer Forschung über die North-Eastern American City[4], eine mythische verstreut urbanisierte Region, eine „Megalopolis“, wie Jean Gottmann[5] sie 1961 definierte: von der Küste bis zum Appalachenkamm, ein höchst unausgewogenes Gebiet, in dem die Möglichkeit eines Gegenprojekts erforscht wird, wie in The New Exploration von Benton MacKaye (1928).[6]
Antefactum: Territorialismus. Der „Trennungscode“[7] zwischen Körpern hat sich tief in den Kontext Amerikas eingeschrieben. Die Stadt ist eine Gegenüberstellung, mehr als eine Überlagerung und ein Zusammenspiel von Räumen, sie besteht aus Territorien, die von Gruppen und Individuen unterschiedlich genutzt werden. Sie ist das Ergebnis eines harten sozialen Zusammenspiels, das ein „Demokratiedefizit“ im urbanen Raum nordamerikanischer (Groß-)städte erzeugt. Die Stadt zwingt uns, die Rolle von Architektur, Landschaft und Städtebau bei der Lösung oder Minderung dieses Defizits zu hinterfragen. Dies ist eine besonders faszinierende Frage für das amerikanische Territorium, das zumindest seit Tocqueville[8] oftmals ausdrücklich als Raum der Freiheit und Demokratie bezeichnet wird. Die Spannung zwischen der Idee eines demokratischen Raums und der Unvollkommenheit dieser Repräsentation und ihrer konkreten Realisierung war der Ausgangspunkt der Untersuchung, die die Studie „Inside A New Form of Dispersed Megalopolis“ (Im Inneren einer neuen Form der verstreuten Megalopolis)[9] fortsetzte. Durch die von Eliot und Baxters Freiraumprojekten für den Raum Boston inspirierte räumliche Linse wurde sie als Mittel zur Bekämpfung von Slums und als Rahmen für zukünftige Entwicklungen konkretisiert.[10]
Gestaltung ist hier ein zweischneidiges Schwert. Sie ist ein Mittel zur Schaffung einer besseren Welt. Ein Heiliger Georg, der die Prinzessin verteidigt und die Stadt befreit, wie Bernardo Secchi dies in seiner Analyse des urbanistischen Diskurses scharfsinnig formulierte:[11] Wenn wir auf ihre Fähigkeit vertrauen, ein tiefes Verständnis jeder Situation zu erreichen, würde Gestaltung die Besonderheiten und Potenziale derselben offenbaren.[12]
Andererseits ließe sich in einer Übung, die unseren intellektuellen Seelenfrieden stören könnte, die traditionelle Lesart umkehren, indem ein Schlaglicht auf die Verantwortung der Raumgestaltung und des Projekts für die Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung geworfen wird. Architektur und Städtebau werden hier auf ihre Verantwortung bei der Produktion von Ungerechtigkeit, insbesondere von räumlicher Ungerechtigkeit, untersucht.[13] Bernardo Secchi stellt diese Hypothese in seinem letzten Buch unmissverständlich auf.[14]
Nach der Untersuchung einiger der Brüche, Abwesenheiten und Ausnahmen im Teil der Megalopolis im Raum Boston (alte Mühlenstädte, Latino-Ghettos auf der Suche nach einer neuen Rolle in der Metropole, Sklaventerritorien, in denen sich räumliche und ökologische Ungerechtigkeiten überschneiden; Randzonen auf den Bergrücken, wo die industrielle Verlassenheit die Unterbrechung der vermeintlichen Kontinuität des großstädtischen Raumes betont)[15], und der „Kernmaterialien“, die generischen sozialräumlichen Mittel der amerikanischen Stadt (die weitläufige Mittelklasse-Vorstadt, ihr Cluster-System entlang von Eisenbahntrassen und Autobahnen, ihre Landschaft, Infrastrukturen, Lebenszyklen, Herausforderungen und Krisen), entlang eines Ost-West-Schnitts durch die Metropolregion Boston[16], ist die Appalachen-Region, das riesige Loch im großstädtischen Raum, exemplarisch dafür.
Auf dem Weg zu einer Erforschung der Appalachen-Region. Der Untersuchungsgegenstand ist die Appalachen-Region. Kartierung, mit Fokus auf den literarischen Blick, Erkundungen vor Ort und Definition erster Elemente für Bauszenarien über die Zukunft der Appalachen-Region sind die Maßnahmen, die bereits gesetzt wurden. Dabei erkundeten wir einen Ost-West-Schnitt, ein Gebiet, das Virginia und West Virginia durchquert, zwischen Charlottesville und Milton (Abb. 2). „Physiografie“, „Palimpsest“ und „Ressourcen“ sind die Stichworte, nach denen ein erster Atlas des Appalachenraums[17] organisiert ist: Sie hinterfragen die komplexe Natur dieser riesigen Region, die Schichtung ihrer territorialen Rationalisierungen und Ausbeutungstechniken in Bezug auf Siedlungsmuster sowie den Zusammenhang mit ökonomischen, sozialen, demografischen Fragen und der Infrastruktur. Sie zeugen von der tiefgreifenden Veränderung in der Ausrichtung unseres Blicks bei der Beschreibung des Raumes der Appalachen-Region.
In der „Physiografie“ liegt die Aufmerksamkeit auf der Arbeit von Wasser und Topografie, auf der Erosion des Appalachen-Plateaus, die die Ränder von Kohleflözen offenbart hat; der Bau größerer Wasserstraßen, die das Gebiet für die Schifffahrt und Besiedlung öffneten; die zerknitterte Topografie regulierte das Wachstum der großflächigen Landwirtschaft und Besiedlung; Wasser und Topografie sind mit dem Reichtum an Biodiversität verbunden, da nördliche Tierarten, die durch den Vormarsch der Gletscher nach Süden gezwungen wurden, in den Bergen Zuflucht fanden.
Der „Palimpsest der Ausbeutung“ beschreibt den Kohlebergbau und die Schichtung von Techniken, Abfall, Zerstörung und bewohnten Stätten, die vollständig in den Mechanismus der Ausbeutung integriert sind: eine Kulturlandschaft, die zuerst von europäischen Siedlern errichtet wurde, die nach Westen in das Gebiet der Irokesen, Cherokee, Shawnee und Choctaw wanderten. Industrielle Abbauverfahren haben das Gebiet in der Tat verändert – physisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell (Abb. 3–4). Heute ist diese Beziehung nur noch komplizierter und destruktiver geworden. Vor der kohlebetriebenen Dampfmaschine wurde West Virginia einem Kahlschlag unterzogen, um eine wachsende Kolonialbevölkerung zu versorgen. Die Einführung der Stahlproduktion war der Auslöser für die erste Phase des Kohlebergbaus in der Region, bei der zugängliche Kohle aus sichtbaren Kohleflözen an den Hängen gewonnen wurde. Als die zugänglichen und sichtbaren Teile der Kohleflöze abgetragen waren, entwickelten Bergbauunternehmen einen Weg, um den Rest der Lagerstätte zu erreichen, indem sie die Gipfel der Berge beseitigten und die nahe gelegenen Täler mit der Abraumhalde füllten, eine Praxis, die drastische Auswirkungen auf die Wassereinzugsgebiete der Region hatte.
Die „Ressourcen“, die wir beschreiben, sind nicht nur die traditionellen. Neben dem Kohleabbau ist das Shenandoah-Tal, das einst als „Brotkorb der Konföderation“ bezeichnet wurde, für umfangreiche maschinelle Anbaumethoden bekannt, durch die große Parzellen für den Anbau von Mais, Soja, Hirse und Getreide für die Viehfütterung genutzt werden können. Gleichzeitig bleiben die besten Bäden (auf den sanften Hängen) unkultiviert, da sie für solche Anbauverfahren als zu schwierig gelten (Abb. 5–6).
Der zentrale Streifen in der Mitte des Atlas, wie er in der letzten Ausstellung organisiert wurde, erzählt Mikrogeschichten, die „on the road“ während der Feldstudien in Form von Skizzen, Interviews, Romanzitaten, Fotografien, Hören der verschiedenen Stimmen der Musik der Appalachen-Region gesammelt wurden. Die Kartierung des literarischen Blicks erleichterte uns den Zugang zu einer Auseinandersetzung, die uns half, ein tieferes Verständnis der Region zu erlangen.
Der dritte und letzte Teil, „Szenarien“, eröffnet, wie wir uns die Zukunft vorstellen könnten: Er ist ein Akt des empirischen und utopischen Radikalismus. Die Fragen sind weitreichend, vielfältig und gegensätzlich: Wie kann man die Folgen einer Zukunft der Appalachen-Region verstehen, die von ihrer Ausbeutung dominiert ist? Können wir diese langfristige Tendenz in ein neues Projekt des Zusammenlebens umkehren und „wie ein Berg“ denken? Wenn die Appalachen-Region schließlich eine Gefangene ihrer starken und oft negativen Bilder wäre, ein Topos in Amerikas kollektiver Bildsprache[18], was wäre, wenn wir weniger Wert auf die Anzeichen von Homogenität legen würden als in der Vergangenheit, indem wir Räume zeigen, die von Bevölkerungen vieler verschiedener Kulturen bewohnt werden, nicht nur vom Hillbilly, dem Klischee vom armen Weißen, das so oft von den Medien vermittelt wird?[19]
Das erste Szenario, „Extracting Appalachia, the Paradox of Plenty“ (Der Abbau der Appalachen-Region, das Paradoxon der Fülle), widmet sich der Arbeit mit Designtools, die in der Lage sind, die hartnäckige Logik des Ressourcenabbaus aufzubrechen und ihr entgegenzuwirken. Szenario Nummer zwei, das radikale „Autarchic Appalachia“ (Autarke Appalachen-Region) ist eine Zukunftsvision der Appalachen-Region nach Ende des Ressourcenabbaus als radikale Koexistenz von Menschen und Nicht-Menschen. Das letzte Szenario, „One, No One, One Hundred Thousand“ (Einer, keiner, hunderttausend)[20], schlägt vor, die Appalachen-Region zu dekonstruieren und ihre eigene Vielfalt an Situationen und Bildern zu vervielfachen, um einen Raum der Unterschiede entstehen zu lassen.[21] Es basiert auf der Hypothese, dass Megalopolen, die sich am Rande von Gebirgen entwickeln, mit Teilen der Appalachen-Region interagieren und sie integrieren könnten, um die laufenden und sich abzeichnenden Beziehungen zu stärken. Die Szenarien befassen sich auf drei verschiedene Arten mit der Frage der Gleichstellung im Raum und in einer territorialen Perspektive.
Stadtplanung als Forschungsinstrument.
„Ich lehne mich zurück, versuche, diese Felder und die Hügel drumherum zu vergessen. Lange Zeit vor mir oder vor diesen Maschinen floss hier der Teays. Fast kann ich das kalte Wasser fühlen und wie es kribbelt, wenn die Trilobiten über einen kriechen. Das ganze Wasser aus den alten Bergen floss Richtung Westen. Aber dann hob sich das Land. Es blieben nur die Ebenen und die versteinerten Tiere, die ich sammle.“
(Pancake, Breece D’J, „Trilobiten“)[22]
Durchquert man Virginia und West Virginia entlang eines Ost-West-Schnitts, denkt man zunächst an William Least Heat-Moons Reisen durch die USA, genährt von einem fast verzweifelten Gefühl der Isolation und dem wachsenden Bewusstsein, in einem fremden Land zu sein.[23] Das vom Autor durchquerte Territorium sieht aus wie ein riesiges Schlachtfeld der Auslöschung von Kultur- und Ökosystemen; ein Ort der Konflikte und der Zerstörung, der Formen des Widerstands, die in den Hohlräumen des unermesslichen Raums, der von den Blue Highways durchquert wird, verborgen sind. In der Tat liegt nicht „nur“ eine Ortsbeschreibung vor, sondern auch die Verurteilung einer von einer ignoranten Vorstellung von Fortschritt verursachten unsinnigen Umweltkatastrophe, und viel Nostalgie. Die Reise und die Landschaften lassen sich als Allegorie lesen, „anders sprechend“/„anders sehend“,[24] die die Sinne mit Bedeutung füllt: eine intime Reise – der Wiederentdeckung und Wiedergeburt – entspricht der realen, zusammen mit einer kollektiven Reise einer mobilen Bevölkerung, die sich innerhalb des amerikanischen Kontinents ständig verändert, auf der Suche nach einer Beziehung, im Raum, zwischen den Zeiten, Menschen und Ereignissen. Der „literarische Blick“ und die Reise konzentrierten sich auf einen Autor, Breece D’J Pancake, und seine 1983 posthum veröffentlichten Kurzgeschichten über die Appalachen-Region[25], um die Feldarbeit zu organisieren und die Texte und die Orte zurückzuverfolgen, um die Welt des Schriftstellers[26] zu kartieren (Abb. 7): seine Heimatstadt Milton, die verborgenen Täler des alten Teays River in West Virginia, die geologischen Merkmale, die er in „Trilobiten“ beschreibt. Obwohl auf staatlicher Ebene extreme Anstrengungen unternommen wurden, um die tragische Situation der Armut in der Appalachen-Region[27]zu überwinden, wirft jeder Roman und jeder Satz ein Schlaglicht auf ein Kapitel eines konstruierten Weges zur Abhängigkeit.[28]
Karten und Mikrogeschichte.
„Ich fahre an einem Schild vorbei, das die Works Progress Administration aufgestellt hat: „Überwacht von George Washington, die Teays-River-Autobahn.‘ Ich sehe Felder und Rindvieh an Stellen, wo jetzt Gebäude sind, fantasiere sie mir aus einer längst vergangenen Zeit her.“
(Breece D’J Pancake, „Trilobiten“ 2011)[29]
Die Kartierung der literarischen Welt von Breece D’J Pancake und die Realisierung des Atlasses verleiht der inhärenten Räumlichkeit unseres Lebens eine sichtbare Gestalt, sie ist „[…] absichtliche Verräumlichung, die darauf abzielt, die grundlegende und allumfassende, aber häufig vergrabene oder in den Hintergrund gedrängte Räumlichkeit des menschlichen Lebens an die interpretative Oberfläche zu bringen.“[30] Der Atlas und die Mikrogeschichten[31] bezogen sich auf die Romane oder auf die Gespräche mit Menschen auf der Straße, in der Nähe der Abbaustätten (wo sich die jüngste, erschreckende Technik der Abtragung von Berggipfeln vollzieht) oder auf einer verlassenen Hauptstraße in Milton, mit Menschen, die hoffen, weggehen zu können oder ohne jede Hoffnung dableiben, wo sich individuelle Lebensgeschichten mit großen sozialgeschichtlichen Problemen überschneiden. Dies war der Fall im Gespräch mit Breeces Schulfreundin, die wegen ihrer Familie zurückkam und heute Leiterin der öffentlichen Bibliothek in Milton ist, oder im Gespräch mit einem Mann mittleren Alters, der sich entschlossen hat, seinen Ruhestand auf dem Blue Ridge zu verbringen, ehrenamtlich für den Appalachian Trail arbeitet, weil es in den nahegelegenen Städten Krankenhäuser gibt und die Lebenserhaltungskosten im Vergleich zur Ostküste, von der er hergekommen ist, niedrig sind der Abbaustätten (wo sich die jüngste, erschreckende Technik der Abtragung von Berggipfeln vollzieht) oder auf einer verlassenen Hauptstraße in Milton, mit Menschen, die hoffen, weggehen zu können oder ohne jede Hoffnung dableiben, wo sich individuelle Lebensgeschichten mit großen sozialgeschichtlichen Problemen überschneiden. Dies war der Fall im Gespräch mit Breeces Schulfreundin, die wegen ihrer Familie zurückkam und heute Leiterin der öffentlichen Bibliothek in Milton ist, oder im Gespräch mit einem Mann mittleren Alters, der sich entschlossen hat, seinen Ruhestand auf dem Blue Ridge zu verbringen, ehrenamtlich für den Appalachian Trail arbeitet, weil es in den nahegelegenen Städten Krankenhäuser gibt und die Lebenserhaltungskosten im Vergleich zur Ostküste, von der er hergekommen ist, niedrig sind.
Karten und Schriftstücke arbeiten im Dialog und verschmelzen, Close Reading (detaillierte Betrachtung weniger Texte) und Distant Reading (quantitative und statistische Betrachtung großer Textmengen). Betrachtet man die USA auf einer breiteren Grundlage, so bleibt die Singularit.t der Appalachen bestehen, sowohl im sozialen als auch im politischen Sinne scheinen Geologie und Gesellschaft in einem bitteren Determinismus miteinander verbunden zu sein. Die hohe Drogenabhängigkeitsrate bestätigt sich, wenn man sie auf einer Karte der gesamten USA vergleicht und wenn sie gleichzeitig von jedem einzelnen Menschen, den wir treffen, erwähnt wird (Abb. 8). Der Zustand der Isolation und Ausgrenzung zeigt sich auch in den Details der sehr „leichten“, allzu leichten urbanen Infrastruktur. Im Raum werden die dem Leben gebotenen konkreten Bedingungen als auch die Ungerechtigkeit in der Gestaltung des Raumes, in dem man lebt, ablesbar. Wie Dikeç betont, liegt der Fokus auf dem Prozess, in dem Räumlichkeit „Produzent und Reproduzent von relativ stabilen Strukturen (Permanenzen) ist und gleichzeitig von diesen produziert und reproduziert wird“; und auch darauf, dass Gerechtigkeit und Räumlichkeit „durch eine Vermittlung größerer Permanenzen, die beide hervorbringen, zusammenhängen.“[32] Das Demokratiedefizit betrifft nicht nur die räumliche Verteilung der Dienstleistungen oder deren Zugänglichkeit, sondern auch die Konsistenz des Raumes, und stellt den gesamten Prozess der Konstruktion von Pfadabhängigkeiten infrage.[33]
Zyklen lesen/Zyklen wiederverwenden. Ein Zyklus durchläuft ein Muster. Wenn dies wahr ist, können wir räumliche Muster beschreiben, die mit bestimmten Zyklen verbunden sind (technologisch, wirtschaftlich, ökologisch, kulturell, usw.). Wie in den alten Bergbaustädten der Appalachen-Region wiederholten die Company Towns und die Minen ihre Muster hunderte Male, und wenn der Zyklus endet, bleibt die physische Lagerstätte erhalten, aber man muss sich neue Zyklen vorstellen.[34] Sie sind in der Tat „tempor.re Strukturen im Fluss der Geschichte“[35] zwischen dem „Ereignis“ und der „longue durée“, „Zyklen sind das – offensichtlich instabile – Grenzgebiet zwischen ihnen. Strukturen, weil sie Wiederholung in die Geschichte einführen.“[36] Im Fall der Appalachen-Region hat jeder Wirtschaftszyklus die Region geformt, den Raum besetzt und kolonisiert, ihn verlassen und Standorte mit verschiedenen Techniken ausgebeutet. Der Zyklus hat also den Raum geformt und gleichzeitig die Zeit hervorgehoben, er ist Chronotopos[37] und Prozess zugleich.
Keine Schlussfolgerungen. Dieser kurze Essay über Territorien, räumliche Ungerechtigkeit und interpretatorische Blicke liefert keine Schlussfolgerungen oder besser gesagt kein „Happy End“, sondern schlie.t mit der Idee, Urbanismus als Forschungsinstrument zu nutzen, um die hier nur kurz umrissenen Prozesse aufzudecken und sich andere Welten vorzustellen. Es ist notwendig, mit der Härte des Raumes zu arbeiten, sowohl mit seiner Trägheit als auch mit den offenen Wegen, die er in sich birgt. Erst in der konkreten Materie, aus der der Raum gemacht ist, lassen sich Brüche erkennen, Porositäten aufdecken.
Übersetzung: Otmar Lichtenwörther
[1] Baudrillard, Jean: Amerika, Übers. Michaela Ott, Berlin 2004.
[2] Dies ist ein Bericht über die zwei Monate, die ich 2017 an der University of Virginia als Thomas Jefferson Visiting Professor verbracht habe. Der Versuch war, die Erfahrung eines Design Studios in einer intensiveren kürzeren Zeit zu verdichten. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Inaki Alday, Ed Ford, Margarita Jover, Alex Wall (auch für den Vorschlag, Breece D’J (Dexter John) Pancake zu lesen) und allen KollegInnen bedanken, die diese „extreme Übung“ voll unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt den Studierenden (Batul Abbas, Joshua Aronson, Joseph Brookover, Luke Harris, Laurence Holland, Jennifer Hsiaw, Elizabeth Kulesza, Lemara Miftakhova, Shannon Ruhl, Christian Storch, Xiang Zhao, Bonnie Kate Walker) für ihre akribische und engagierte Mitwirkung sowie Anthony Averbeck, Dozent an der University of Virginia, und Roberto Sega, Gastprofessor an der EPFL, für ihre wertvolle Hilfe. Die Lehrveranstaltung wurde von einer Reihe von Vorlesungen begleitet, die in zwei Teile gegliedert waren: der erste über die Rolle des Designs, der zweite über ein neues laufendes Forschungsprojekt zum biopolitischen Raum.
[3] Baudrillard: Amerika, 134 (wie Anm. 1).
[4] Vgl. Viganò, Paola: Territorialism, Cambridge, MA 2014.
[5] Vgl. Gottmann, Jean: Megalopolis. The Urbanized Northeastern Seaboard of the United States, New York 1961.
[6] Bekanntlich wurde der Appalachian Trail (Appalachenweg) von Benton MacKaye nicht nur als Weg auf dem Grat der Appalachenkette konzipiert, sondern MacKaye hatte auch den Ehrgeiz, die Raumaufteilung dieses Territoriums umzukehren und Entwicklung dorthin zu bringen, wo ansonsten nur Bodenschätze abgebaut wurden.
[7] Baudrillard: Amerika, 50 (wie Anm. 1).
[8] In Über die Demokratie in Amerika stellte Alexis de Tocqueville am Anfang seiner zu Recht berühmten Einleitung Folgendes fest: „Von all dem Neuen, das während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit auf sich zog, hat mich nichts so lebhaft beeindruckt wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen.“ de Tocqueville, Alexis: Über die Demokratie in Amerika, Übers. Hans Zbinden, Stuttgart 1985, 15.
[9] GSD, Option Studio Herbst 2012 und Herbst 2013.
[10] Im Boston Metropolitan Park Report von 1893 präsentierten der Sekretär der Kommission, Sylvester Baxter, und der Landschaftsarchitekt Charles Eliot einen Ansatz des Städtebaus, indem sie die Stadt durch die malerischen natürlichen Freiräume an ihren Rändern betrachteten. Steven T. Moga betont diesbezüglich Folgendes: „Ich behaupte, dass Eliot und Baxter die Freiraumplanung als Mittel zur Bekämpfung von Slums und zur Schaffung einer flächendeckenden Flächennutzungsvorlage für zukünftiges Wachstum betrachteten.“ Moga, Steven T.: „Marginal Lands and Suburban Nature: Open Space Planning and the Case of the 1893 Boston Metropolitan Parks Plan“, in: Journal of Planning History 8,4 (2009), 308–329.
[11] Bernardo Secchis Il racconto urbanistico ist eine grundlegende Analyse der Konstruktion des urbanistischen Diskurses, seiner Metaphern und Konzepte, rund um die Idee eines Prozesses zur Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung. Vgl. Secchi, Bernardo: Il racconto urbanistico, Torino 1984.
[12] „Ungerechtigkeiten entstehen, wenn Humanrecht und Sozialpraxis natürliche Prozesse ignorieren und wenn diejenigen, die die Stadt planen, gestalten und bauen, sich auf die Probleme eines Stadtteils konzentrieren und seine Ressourcen nicht erkennen.“ Spirn, Anne Whiston: ‚Restoring Mill Creek: Landscape Literacy, Environmental Justice and City Planning and Design“, in: Landscape Research 30,5 (2005), 395–413, hier 395.
[13] Vgl. Soja, Edward: „The City and Spatial Justice“, Justice spatiale/Spatial Justice, 1 (2009), http://www.jssj.org (Stand: 16. Oktober 2018).
[14] Secchi, Bernardo: La città dei ricchi e la città dei poveri, Rom/Bari 2013.
[15] GSD, Option Studio Herbst 2012.
[16] GSD, Option Studio Herbst 2013.
[17] Eines der ältesten Gebirgssysteme der Erde, bestehend aus Bergen, Tälern, Graten und Plateaus, die durch die Küstenebene durch eine massive Falllinie getrennt sind. Der Blue Ridge ist das Rückgrat des Systems. Zwischen dem Blue Ridge und der Fall-Linie liegt ein hügeliges Plateau namens Piedmont. Die Region umfasst 420 Landkreise in 13 Bundesstaaten. Sie erstreckt sich über mehr als 1.000 Meilen vom Süden New Yorks bis zum Nordosten von Mississippi und ist die Heimat von mehr als 25 Millionen Menschen. Von einer Region mit weit verbreiteter Armut zu einer Region mit wirtschaftlichen Gegensätzen. (Vgl. die Website der ARC – Appalachian Regional Commission). Siehe auch der Vergleich mit der Studie über die Appalachen-Region von 1964 in Auftrag gegeben von John F. Kennedy (Appalachia: A Report by the President’s Appalachian Regional Commission, https://www.arc.gov/noindex/aboutarc/history/parc/PARCtoc.pdf) Vgl. auch Isserman, Andrew: „Appalachia Then and Now: An Update of „The Realities of Deprivation‘ Reported to the President in 1964“, in: Journal of Appalachian Studies 3,1 (1997), 43–69.
[18] Die Einleitung des Berichts von 1964 an den Präsidenten beginnt wie folgt: „Die Appalachen sind eine Region, die räumlich und statistisch getrennt ist.“ Appalachia XV (wie Anm. 17).
[19] Zur Rolle solcher Klischees vgl.: Vance, James D.: Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and a Culture in Crisis, New York 2016.
[20] Der Titel des Szenarios, das sich mit der Vielfalt des Raumes der Appalachen-Region beschäftigt, ist von einem der berühmtesten Romane von Luigi Pirandello inspiriert.
[21] Dies war 1964 noch immer die gängigste Interpretation. Laut Appalachia: A Report by the President’s Appalachian Regional Commission ist ‚[d]ie Appalachen-Region […] in ihrer Homogenität bemerkenswerter als in ihrer Vielfalt.“ Appalachia, XVIII (wie Anm. 17). In Issermans Appalachia Then and Now wird diese Interpretation nuancierter und sogar deutlich widerlegt. Vgl. Isserman, Appalachia Then and Now (wie Anm. 17).
[22] Pancake, Breece D’J: „Trilobiten“, in: Stories, Frankfurt am Main 2011, 17. Die Kurzgeschichte wurde 1977 erstmals im Magazin The Atlantic veröffentlicht.
[23] Least Heat-Moon, William: Blue Highways, Boston, MA 1983, 10. Die Reise dauert drei Monate in einem riesigen Gebiet, auf der Suche nach Welten, in denen Veränderung nicht gleichbedeutend ist mit Ruin, wo Zeit, Menschen und Ereignisse in Beziehung zueinander stehen.
[24] „Le ,dire autrement‘ de l’allégorie (allegorein) s’origine dans un ,voir autrement‘.“ Vgl. Imbert, Christopher/Maupeu, Philippe (Hg.): Le paysage allégorique, Rennes 2011, 10.
[25] Vgl. Pancake, Breece D’J: Stories, Frankfurt am Main 2011.
[26] Vgl. Moretti, Franco: Atlante del romanzo europeo (1800–1900), Turin 1997. Moretti besteht auf der Fähigkeit der Kartierung, ansonsten unsichtbare Beziehungen und Verbindungen aufzudecken. Dem können wir nur zustimmen. Andererseits stellt die verfügbare Literatur für ArchitektInnen und StadtplanerInnen ein riesiges Arsenal an Themen und Interpretationen dar, die oft über die herkömmliche Weisheit hinausgehen können. In vielen der Projekte, an denen wir gearbeitet haben, hat der literarische Blick eine grundlegende Rolle bei der Designinterpretation gespielt. Vgl. z.B. Secchi, Bernardo/Viganò, Paola: Étude pour le Val de Durance.
[27] Die Appalachen-Region war von zentraler Bedeutung für Präsident Lyndon B. Johnsons „Krieg gegen die Armut“, den er 1964 als Reaktion auf die wachsende Einkommensungleichheit in den Vereinigten Staaten erklärte. Johnson bezeichnete letztere als „die entscheidende Herausforderung unserer Zeit“. Für einen kritischen Überblick über die damit verbundene Politik im Kontext der Appalachen-Region vgl. Eller, Ronald D.: „The War on Poverty in Appalachia“, University of Kentucky, Lexington 2014, http://www.uky.edu/CommInfoStudies/IRJCI/EllerPovertyWarAppalachiaOhioU.pdf
[28] Vgl. Salstrom, Paul: Appalachia’s Path to Dependency: Rethinking a Region’s Economic History, 1730–1940, Lexington 1994.
[29] Pancake: „Trilobiten“, 15–16 (wie Anm. 21). Hier wird auf die Works Progress Administration (WPA) verwiesen, die 1939 in Work Projects Administration umbenannt wurde, ein klares politisches Programm, die ehrgeizigste amerikanische New-Deal-Agentur, die öffentliche Gebäude und Straßen baute und Millionen von Arbeitslosen Arbeit gab, um Sozialeinrichtungen und Infrastruktur in fast jeden Winkel der USA zu bringen. In der Appalachen-Region werden die Anstrengungen im Infrastrukturbau mit dem „Krieg gegen die Armut“ fortgesetzt, in einer Politik zur Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung gegen die Geografie.
[30] Soja, Edward: Postmetropolis, Oxford 2000, 15.
[31] Bei den Mikrogeschichten bezieht sich der Verweis auf Carlo Ginzburg und Giovanni Levi, aber auch auf George Stewart. Vgl. Ginzburg, Carlo: „Microhistory, Two or Three Things That I Know about It“, Critical Inquiry 20,1 (1993), 10–35; Levi, Giovanni: „On Microhistory“, in: Burke, Peter (Hg.): New Perspectives on Historical Writing, Cambridge 1991, 93–113; Stewart, George R.: Pickett’s Charge: A Microhistory of the Final Attack at Gettysburg, July 3, 1863, Boston 1959.
[32] Dikeç, Mustafa: „Justice and the Spatial Imagination“, in: Environment and Planning 33,10 (2001), 1785–1805.
[33] Ronald D. Eller kommentiert die über fünfzig Jahre vor allem im Infrastrukturbereich geführten Aktivitäten der ARC (Appalachian Regional Commission) wie folgt: „Wie andere Gesetze der Great Society (Johnsons sozialpolitisches Reformprogramm) haben sich die politischen Maßnahmen der ARC die Ressourcen auf einige wenige „Wachstumszentren“ in der Region konzentriert, indem die Dienstleistungen für die Armen ausgedehnt und die Bergmittelklasse ausgebaut wurde, aber wenig getan wurde, um die Bedingungen in den am stärksten benachteiligten ländlichen Gebieten zu ändern oder systemische politische oder wirtschaftliche Ungleichheiten in der gesamten Appalachen-Region zu beseitigen.“ Die Kultur der Appalachen-Region als anachronistisch betrachtend, „konzentrierten Programme zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung der Wirtschaft der Region Ressourcen in Wachstumszentren der Mittelschicht, da sie die Landschafts- und Wasserqualität nicht schützen konnten, förderten die Zunahme der Verbraucherabhängigkeit und begünstigten die Abwanderung der Jugend.“ Eller: „The War on Poverty“ (wie Anm. 27). Vgl. dazu auch Eller, Ronald D.: Uneven Ground: Appalachia Since 1945, Lexington 2008.
[34] Vgl. Viganò, Paola: „Riciclare citt.“, in: Ciorra, Pippo/Marini, Sara (Hg.): Re-Cycle, Milano 2011; Vigan., Paola: „Lifecycles, Embodied Energy, Inclusion: Elements for a Theory of the City as Renewable Resource“, in: Lorenzo, Fabian/Emanuel, Giannotti/Vigan., Paola (Hg.): Recycling City, Lifecycles, Embodied Energy, Inclusion, Pordenone 2012.
[35] Moretti, Franco: „Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for Literary History 1“, in: New Left Review 24 (2003), 67–93, hier 76.
[36] Ebd.
[37] Bachtins Begriff bezieht sich auf die „intrinsische Verbundenheit zeitlicher und räumlicher Beziehungen, die künstlerisch gestaltet werden.“ Bachtin, Michail M.: „Forms of Time and of the Chronotope in the Novel“, in: The Dialogic Imagination: Four Essays by M. M. Bakhtin, Austin, TX 1981, 84.