The housing complex located at the Rue des Brigittines in the heart of Brussels was once the flagship project of the social housing development. It now has become a symbol of the degradation of the quality of life for the poorest social groups, underlining the urgent need for an ambitious plan to deal with spatial inequalities. | Die Großwohnsiedlung an der Rue des Brigittines im Herzen Brüssels war einst ein Leuchtturmprojekt des sozialen Wohnungsbaus. Heute ist es ein Symbol für die abnehmende Lebensqualität bedürftiger sozialer Schichten, das die Notwendigkeit eines ambitionierten Planungsansatz für räumliche Gerechtigkeit verdeutlicht. © Artgineering
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Soziale Ungleichheiten, die urbane Frage und die Finanzkrisen

Bernardo Secchi

Die westliche Welt ist oft von großen Krisen gezeichnet worden, die zu gleicher Zeit ökonomische und finanzielle, institutionelle und politische, soziale und kulturelle Dimensionen aufwiesen und zu entsprechenden Überlegungen auf all diesen Gebieten sowie zu der Suche nach radikalen Lösungen für die daraus entstandenen Probleme und für das Unbehagen, das sie begleitete, geführt haben. Es überrascht nicht, dass manche dieser Krisen, vielleicht sogar die gravierendsten und langwierigsten, jeweils mit dem Auftauchen einer grundsätzlichen urbanen Frage zusammenfielen. Die Welt ist bei ihrer Bewältigung jedes Mal anders aus ihnen hervorgegangen und auch die Stadt und ihr Bild haben sich verändert, ihrer räumlichen Struktur ebenso wie ihrer Rolle und ihrer Funktionsweise nach.

So ist die moderne Stadt, die zwischen der Lösung der „Wohnungsfrage“ und der baudelaireschen Metropole Gestalt annimmt, eine andere als die vorausgehende des Ancien Régime, von der sie sich nicht zuletzt durch ihre „Polemik gegen den Luxus“ abgesetzt hatte. Jedes dieser Stadtmodelle repräsentiert nicht nur gleichsam ikonisch eine jeweils andere soziale Ordnung, sondern bildet zugleich die Grundlage für deren Ausbreitung. Auf ähnliche Weise unterscheidet sich die Metropole der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vertikale Stadt mit New York als ihrem Inbegriff, von den Ikonen des 19. Jahrhunderts: dem Paris Hausmanns, dem viktorianischen London, dem Wien des fin de siècle, von denen sie dennoch viele Aspekte bewahrt hat, so wie sich auch im Stadtbild des 19. Jahrhunderts Elemente aus der Zeit des Ancien Régime erhalten haben. Die Metropole der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fügt den älteren Stadtlandschaften die Peripherie hinzu und mit den Megacities des ausgehenden 20. Jahrhunderts kommt die Streuung der „zersiedelten Stadt“[1] hinzu.

Jedes Mal haben historische Krisen die urbane Frage mit neuen Themen und Konflikten, neuen Allianzen und Kompatibilitätsproblemen wieder aufgerollt, in denen sich unschwer veränderte Vorstellungen von Gleichheit und Ungleichheit und ihnen entsprechende räumliche Ordnungen erkennen lassen.[2] Die Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts – die sich während drei Jahrzehnten wachsender sozialer Ungleichheiten angebahnt hatte, und die vermutlich länger dauern und die westlichen Ökonomien stärker beeinflussen wird als man heute wahrhaben möchte – koinzidiert, wie schon andere in der Vergangenheit, mit dem Auftauchen einer ernsten und vielschichtigen urbanen Frage, deren wahrer Charakter nur zögerlich zur Kenntnis genommen wird. Im Zentrum der verschiedenen Dimensionen dieser Krise stehen die sozialen Ungleichheiten: die Gier der Reichen,[3] der fortschreitende Abbau des Sozialstaates und die abnehmende Lebensqualität der ärmsten Gruppen der Gesellschaft. Die sozialen Ungleichheiten sind möglicherweise nicht die Folge, sondern eine keineswegs nebensächliche Ursache der Krise selbst. Die in ihren Schutzarealen abgekapselten alten und neuen Reichen mögen noch soviel konsumieren, sie werden niemals die für das wirtschaftliche Wachstum der jeweiligen Länder oder des Planeten erforderliche Nachfrage generieren. Keine Ökonomie ist jemals allein durch die Produktion von Luxusgütern gewachsen, während der technische Fortschritt seinerseits dafür sorgt, dass steigende Produktionsraten mit immer weniger Arbeit erzielt werden.

Seit Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ist die Weltwirtschaft in eine Akkumulationsphase getreten, die mehr denn je die Erschließung großer Märkte erfordert. Das Bruttoinlandsprodukt des Planeten steigt, aber das Wachstum verteilt sich geografisch nicht mehr vorrangig auf die traditionellen Industrieländer. Wir erleben eine erstaunliche geopolitische Umverteilung von Produktionsstätten und Vermögensbildung, die flankiert wird von einer ebenso erstaunlichen Umverteilung der Bevölkerungen auf die unterschiedlichen Erdteile, zwischen den Staaten und in den Ländern selbst. Dank dieser Umverteilung gelingt es einigen neuen Ländern, ihren Wohlstand zu mehren, während die historisch hochentwickelten, in denen das Modell des Wohlfahrtsstaats ursprünglich ersonnen und eingeführt wurde, unter ihren Konsequenzen leiden und mit Arbeitslosigkeit, einem erschwerten Zugang zur Arbeitswelt für die jüngeren Generationen und steigender Armut zu kämpfen haben.

Die gewaltsame Urbanisierung in Lateinamerika, Japan, China, Indien und einigen afrikanischen Staaten – eine Urbanisierung, die seltsamerweise nicht jene Ängste weckt, von denen sie am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa und Nordamerika begleitet worden war[4] – hat maßgeblich zur Erschließung großer, räumlich verdichteter und global einheitlicher Märkte beigetragen. Nur selten wird zugegeben, dass die neuen Formen der Besetzung des Territoriums überall auf dem Planeten einen endgültigen Bruch mit den politischen, ökonomischen und sozialen Organisationsformen der Vergangenheit markieren. Desgleichen sträubt man sich gegen die Erkenntnis, dass Stadtentwicklung und Gebietsreform überall unverzichtbarer Bestandteil umfassender „biopolitischer“ Visionen und Interventionen sind; dass die Stadt, die seit jeher als der Raum sozialer und kultureller Integration par excellence gedacht wurde, in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem mächtigen Instrument geworden ist, die Einzelnen ihrer Rechte und ihres Gefühls für Zusammengehörigkeit zu berauben. Diese Politik hat sich einer Ideologie und einer Rhetorik bedient, die zu den herrschenden ihrer Zeit wurden: der Ideologie des Marktes und der Rhetorik der Sicherheit. Beide waren auf eine kohärente Raumpolitik angewiesen, auf das Zusammenspiel physischer Dispositive, die in vielfältiger Weise die Trennung der sozialen Klassen konkret sichtbar machen; die dafür sorgen, dass man sie sieht wie man ehedem die Trennung zwischen Fabrik und Arbeitersiedlung auf der einen und Büros und vornehme Viertel auf der anderen Seite sehen konnte.

Im Juni 1937 stellte das National Resources Committee dem Präsidenten Franklin Delano Roosevelt einen Bericht mit dem Titel „Our Cities. Their Role in the National Economy“[5] vor, die erste großangelegte Studie zum Zustand und den Problemen der Stadt in den Vereinigten Staaten. Davor hatte es bereits vom selben National Resources Committee einen anderen Bericht gegeben, der 1909 Präsident Theodore Roosevelt über die Bedingungen des Landlebens in Kenntnis gesetzt hatte. Und es gab die vage Überzeugung, dass der Ruralismus die Grundlage der amerikanischen Demokratie bildet. In den Worten Frank Lloyd Wrights: „‚Ländlichkeit‘ im Gegensatz zum ‚Urbanismus‘ ist amerikanisch und wahrhaft demokratisch.“[6]

Im Bericht von 1937 gibt es ein Kapitel, das den dringenden Problemen der damals noch in einer tiefen Rezession befindlichen Nationalökonomie gewidmet ist, worin die starken Einkommens- und Vermögensunterschiede in den Stadtgebieten an erster Stelle genannt werden. Vor dem Hintergrund dieser Feststellung schlägt das Komitee vor, die Städte, in denen damals die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung lebte, als fundamentale Ressource für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung zu betrachten, dies nicht zuletzt aufgrund ihres beträchtlichen und über eine große Bandbreite an Kompetenzen verteilten Humankapitals, das es mit einem großangelegten Plan zur Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur, einem Wohnungsbauprogramm und der Sanierung der ärmsten Viertel zu nutzen gelte.

Aus durchaus vergleichbaren Gründen gelten Städte und große urbane Gebiete noch heute als Ressource mit wiederverwertbaren und erneuerbaren Kapazitäten,[7] die eine größere Aufmerksamkeit seitens nationaler und übernationaler Politik verdient hätten. Insbesondere hätten sie ein Bewusstsein davon verdient, dass man längere Rezessionsphasen nur vermeidet, wenn die Umverteilung von Produktion und Bevölkerung zugleich eine Umverteilung des Reichtums beinhaltet, so wie die Perioden nachhaltigen Wachstums stets von der Abnahme der sozialen Ungleichheiten begleitet wurden. Eine Umverteilung demnach, für die es gute Gründe nicht nur aus Sicht der in allen westlichen Staaten mittlerweile schw.chelnden Demokratie gibt,[8] sondern auch ganz elementar aus der Notwendigkeit, mithilfe einer gesteigerten Nachfrage den verschiedenen Ökonomien neue Impulse liefern zu müssen.[9]

Wenn die „glorreichen dreißiger Jahre“ maßgeblich von fast cars, clean bodies[10] angetrieben wurden, also von der Produktion von Autos und Haushaltsgeräten sowie den mit ihnen verbundenen Infrastrukturen und Ausrüstungen, müssen wir in naher Zukunft neue Wege finden, die Vollbeschäftigung wieder zu erreichen und diese womöglich auch anders zu konzipieren, auf einem niedrigeren Tätigkeitslevel und vor allem auf der Basis einer anderen Beschäftigungsstruktur, in eines mit einer veränderten Beziehung von Arbeit und Gesellschaft. Die Finanzkrise und die urbane Frage bieten hier bemerkenswerte Ansatzpunkte. Sie nicht zu nutzen, könnte zu einer Verschärfung der Probleme statt zu ihrer Lösung beitragen.

So erfordern beispielweise die mit dem Klimawandel zusammenhängenden Umweltprobleme und solche des Zugangs zu Verkehrssystemen, die die Bürgerrechte wahren, eine andere Ausgabenpolitik, als die derzeit von den größeren europäischen Staaten praktizierte. Der Fall Los Angeles, den Tim Creswell und Edward Soja beschrieben haben, sollte in dieser Hinsicht zu denken geben.[11]

1994 leiteten die Nutzer des öffentlichen Verkehrssystems von Los Angeles, vertreten von der Bus Riders Union eine Sammelklage gegen die MTA, die städtischen Verkehrsbetriebe ein. Diese hatte den Preis der Busfahrscheine erhöht und die Absicht bekundet, erhebliche Mittel in den Ausbau eines schnellen Transportnetzes zu investieren, der das Geschäftszentrum in downtown mit den Vororten verbinden sollte, wo die wohlhabenden Angestellten wohnen. Benutzt wurden die öffentlichen Verkehrsmittel vor allem von Latinos, die frühmorgens die Büros putzen, sich anschließend um die Gärten kümmern und Haushaltsarbeiten aller Art verrichten, wobei sie im Laufe des Tages darauf angewiesen sind, mehrmals die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Gemäß dem ersten Verfassungszusatz, der jede Form der Diskriminierung verbietet, wurde ihnen vom Obersten Gerichtshof Recht gegeben und die MTA dazu verpflichtet, erst die Busverbindungen zu verbessern, bevor sie größere Investitionen in das U-Bahn-Netz vornimmt. Diese Geschichte lehrt, dass man mithilfe der bereits existierenden Gesetze die Rechte des ärmsten Teils der Bevölkerung schützen kann, und dass „die politische Wahrnehmung der Bürgerrechte dazu führen kann, neue Breschen durch Raum und Zeit zu schlagen.“[12] Sie lehrt auch, dass man in Paris wie in Brüssel, Moskau oder anderen Städten mit kleinen politischen Initiativen diesseits spektakulärer Großprojekte erfolgreich agieren kann, um die Durchlässigkeit von Themen, Personen und Interessen im urbanen Gefüge zu steigern und auf diese Weise die Stadt zu verändern wie dies im Zuge anderer großer Krisen in der Vergangenheit geschehen ist.

In den avanciertesten Projekten und Visionen[13] kann man heute schon die Symptome und das Potenzial solcher Veränderungen erkennen. Diese implizieren, dass man wieder über die räumliche Struktur der Stadt nachdenkt; dass man die Bedeutung des Territoriums für ihre Bauvorhaben erkennt sowie die Rolle ihrer kapillaren und isotropen Infrastruktur für die größere Streuung und die höhere Durchlässigkeit und Zugänglichkeit des Stadtgebiets; dass man mehr Ehrgeiz beim Entwerfen von öffentlichen Räumen entwickelt mit Blick auf die historischen Vorbilder unserer Städte; dass man wieder dahin kommt, über die Dimension des Kollektiven nachzudenken. Die Urbanistik wird ebenso verändert daraus hervorgehen wie die Stadt selbst. Zwischen der Stadt und den verschiedenen Disziplinen wird man neue Allianzen schmieden müssen. Stadtplaner, Ökonomen und Soziologen müssen wieder mit Geografen, Botanikern und Hydraulikern diskutieren; sie werden sich wieder tiefer in das individuelle und kollektive Imaginäre versenken müssen.

 

Übersetzung aus dem Italienischen: Daniele Dell’Agli

 

Der Text bildet das Schlusskapitel des letzten Buches von Bernardo Secchi: La città dei ricchi e la città dei poveri, Rom/Bari 2013, 71–78. Den Begriff „urbane Frage“ prägte Manuel Castells 1972 in seinem gleichnamigen Werk (La question urbaine), das zum Klassiker marxistischer Stadtsoziologie avancierte. Gemeint war damit in Analogie zur „sozialen Frage“ eine städtebauliche Matrix bzw. ein Dispositiv zur buchstäblichen Zementierung sozialer Ungleichheiten. Im Laufe der Zeit wurde der Begriff im Kontext linker Urbanismus-Kritik verschiedentlich erweitert, u.a. ergänzte ihn Bernardo Secchi selbst um ökologische und verkehrssoziologische Dimensionen.

 


[1] Indovina, Francesco: La città diffusa, Venezia 1990.

[2] Vgl. Rosanvallon, Pierre: La Société des égaux, Paris 2011,14–20.

[3] Vgl. Stiglitz, Joseph E.: Freefall. America, Free Markets, and the Sinking of the World Economy, New York 2010.

[4] Vgl. Secchi, Bernardo: La città del ventesimo secolo, Roma/Bari 2005.

[5] National Resources Committee: „Our Cities. Their Role in the National Economy“, Report of the Urbanism Committee, Washington 1937.

[6] Wright, Frank Lloyd: „Moderne Architektur“, in: Die Zukunft der Architektur, München/Wien 1966, 45–138, hier 132.

[7] Vgl. Viganò, Paola: „Riciclare citt.“, in: Ciorra, Pippo/Marini, Sara (Hg.): Re-cycle, Milano 2011,102–119.

[8] Vgl. Galli, Carlo: Il disagio della democrazia, Torino 2011.

[9] Vgl. Stiglitz, Joseph E.: The Price of Inequality, New York/London 2012.

[10] Ross, Kristin: Fast Cars, Clean Bodies. Decolonization and the Reordering of French Culture, Cambridge, M.A./London 1995.

[11] Vgl. Cresswell, Tim: On the Move, New York 2006, 167–174; Soja, Edward: Seeking Spatial Justice, Minneapolis 2010.

[12] Blomley, Nicholas/Pratt, Geraldine: „Canada and the Political Geographies of Rights“, in: The Canadian Geographer 45, 1 (2001), 151–166, hier 163. Trans. D.D’A.

[13] Vgl. http://www.ediliziaeterritorio.ilsole24ore.com/art/mediacenter/gallery/progetti-e-concorsi/2012/05/secchi_vigano/secchi_vigano.php?uuid=Ab2uFXdF.