(1) Iannis Xenakis, „Metastasis: Glissandi des cordes“, Notation, 1954 © Xenakis Family Estate
GAM 13

Notation als Entwurf
Iannis Xenakis’ Philips-Pavillon

Samuel Zwerger

Der Philips-Pavillon der Brüsseler Weltausstellung von 1958 ist ein Gebäude, das Klang als zentrales gestalterisches Element einsetzte und dadurch den Pavillon in seiner Einzigartigkeit hervorbrachte.1 Einen Teil dieses komplexen Projekts stellte das „Poème Électronique“2 von Le Corbusier und Edgar Varése dar, welches die visuelle und akustische Realität im Inneren des Pavillons bildete. Die eigentlich avantgardistischen Züge des Projekts stammten jedoch im Ursprung vom Ingenieur, Komponisten und Architekten Iannis Xenakis.

Xenakis kam 1947 als politischer Flüchtling aus Griechenland nach Paris, wo er für zwölf Jahre als Ingenieur in Le Corbusiers Atelier arbeiten sollte.3 Während dieser Zeit folgte er seinem innigsten Wunsch, als Komponist tätig zu sein, während er sich gleichzeitig architektonisches Entwurfswissen aneignete. Diese Parallelität sollte nicht ohne gegenseitigen Einfluss bleiben. Zudem ermöglichte ihm seine fortwährende Suche nach Kontinuitäten zwischen Kunst und Wissenschaft die Entdeckung einer kompositorisch-gestalterischen Problemstellung, die er in seinen Kompositionen und in der Architektur gleichermaßen zu lösen versuchte.

(2) Iannis Xenakis, „Metastaseis“, Glissandiflächen als Projektion der räumlichen Figur eines hyperbolischen Paraboloids, 1953
© Xenakis Family Estate

Der Philips-Pavillon sollte die Produkte der Firma Philips, welche seit den 1930er Jahren Technologien zur Klangund Bildwiedergabe entwickelte, nicht als Ausstellungsobjekte, sondern in ihrer Anwendung zeigen. Im Zwanzig-Minutentakt konnten jeweils 500 Menschen eine Vorstellung des achtminütigen „Poème Électronique“ besuchen, einer Synthese aus Licht, Klang, Bild, Farbe, Rhythmus und Architektur. Dieser Raum, welcher für Le Corbusier nur ein Innen haben sollte und wie ein Magen mit nur einem Ein- und einem Ausgang konzipiert wurde, war von der Außenwelt abgeschieden. Fünf Zentimeter dicke modulare Flächen trennten visuell und vor allem akustisch das Innere vom Äußeren. Die Akustik beeinflusste die Konzeption der komplexen Form ma.geblich. Konvexe und konkave Flächen sollten den wiedergegebenen Klang in möglichst viele Richtungen reflektieren, denn „um alle möglichen Raumeindrücke kontrollieren zu können, sollte der Nachhall angemessen gering sein.“4 Das Gebäude selbst bestand aus neun sich gegeneinander lehnenden hyperbolischen Paraboloiden, welche steil aus dem Boden ragten und an drei Punkten zusammengeführt wurden. Noch nie waren solche geometrischen Flächen, welche exzellente statische Eigenschaften vorweisen, in einer derart konsequenten Weise verwendet worden. Ausgeführt wurden die Flächen in vorfabrizierten und nummerierten Modulen, welche vor Ort mit Hilfe eines Lehrgerüsts in ihre endgültige Form zusammengebaut wurden. Stahlseile hielten das gesamte Gebäude in Spannung, welche an den Leitlinien der Paraboloide verankert und anschließend gespannt wurden.

Dem Entwurf des Pavillons gingen Xenakis’ Kompositionen „Metastaseis“5 (1953/54) und „Pithoprakta“ (1955/56) voraus, die einen radikalen Einschnitt in der musikalischen Kompositionsgeschichte darstellen. Ausgangspunkt für diese Kompositionen war Xenakis’ Faszination für Massenklangphänomene, welche aus starken auditiven Erfahrungen im griechischen Widerstand während des zweiten Weltkriegs und den Erlebnissen von Naturphänomenen wie z.B. dem Zirpen von Zikaden resultierte.6 Zentrales Interesse war es, Beschaffenheit und Struktur dieser klanglichen Ereignisse zu erfassen,7 woraus sich das Ziel ergab, diese mit anderen klanglichen Mitteln, durch grafische sowie stochastische Prozesse8 zu rekonstruieren, um so eine Formalisierung von Klanggestalten zu vollziehen. Xenakis übertrug dabei zuerst architektonische Aufzeichnungsmethoden in die Musik, um intuitiv seine Ideen zu Papier bringen zu können, welche er anhand konventioneller Notenschrift nicht erfassen konnte. Zentrales Werkzeug dieser Notationsmethoden waren die Ideen der Thermodynamik und der Stochastik. Die Erkennung, Berechnung und Kontrolle von Chaosstrukturen war das übergeordnete Ziel, das Xenakis in sein Schaffen integrierte. Dabei ging es immer wieder um Methoden der Sichtbarmachung und im Besonderen darum, Phänomene künstlich zu erzeugen, die dem menschlichen Geist unerschlossen bleiben. Naturwissenschaftliche Entdeckungen wie die Brownsche Molekularbewegung, die kinetische Gastheorie oder probabilistische Verteilungskurven waren für ihn von zentraler Bedeutung, da sie es ihm ermöglichten, seine Klangvorstellungen in seiner eigenen Methode zu realisieren. Die probabilistische Berechnung von Klangereignissen, die massenhafte Bewegung von Klang in unterschiedliche Richtungen und die Geschwindigkeit, mit der Tonpunkte ihre Frequenz kontinuierlich verändern (Glissando), waren Eigenschaften, die er mittels mathematischer Formeln errechnete. Damit konnte sie Xenakis der Idee eines Stückes anpassen und als Punkte und Grafen präzise in Koordinatensysteme eintragen, um sie erst anschließend in konventionelle Notenschrift zu transkribieren. Die sich variierenden Zustandsdichten seiner Kompositionen (Champs de densitée sonore) bezeichnete Xenakis mit einem thermodynamischen Begriff als den Wandel von Temperaturen,9 eine Eigenschaft, die häufig genannt wird, um Raumqualitäten zu beschreiben.

(3) Iannis Xenakis, „Pithoprakta“, Freihandskizze zur Morphologie der Komposition mit Angabe der Formel zur präzisen Berechnung der Glissandi, 1955–56 © Xenakis Family Estate

Die transversale Aneignung von Inhalten und deren Methoden war durch Xenakis’ wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Physik, Mathematik und Philosophie geprägt und damit Grundlage für die experimentelle Verwendung von architektur- und kompositionsfernen Notationsformen, durch die er sowohl musikalische als auch architektonische Strukturen entwickeln konnte. Diese Notationen ermöglichten ihm das ständige Wechseln zwischen Komposition und Architektur und brachten dadurch den Philips-Pavillon in seiner Einzigartigkeit hervor, an dem eine Verschränkung von Musik und Architektur ablesbar wird. Der Pavillon materialisiert damit in seiner Struktur ein sehr komplexes Feld von Einflüssen und Beziehungen, welche in Xenakis’ Aufzeichnungen die inneren Zusammenhänge dieses Gebäudes erschließen sollen. Hermann Scherchens Aussage trifft im selben Maße auf Xenakis’ erste avantgardistische Komposition „Metastaseis“ (1953/54), wie auch auf den Philips-Pavillon zu und beschreibt den vielschichtigen Charakter des Bauwerks treffend: „In fact it does not come out of music at all, but from somewhere completely different.“10

(4) Iannis Xenakis, Philips-Pavillon, Geometrische Konstruktion der Hyperbeln für den Grundriss, Paris, 1957
© Fondation Le Corbusier/Bildrecht, Wien, 2016

Le Corbusiers Hauptinteresse am „Poème Électronique“, seine rege Reisetätigkeit, die ihm wenig Zeit ließ, und sein Bestreben, eine mathematische Architektur zu konzipieren, führten dazu, dass er Xenakis’ Wunsch entgegenkam, das Gebäude zur Gänze selbst zu entwerfen. Xenakis Haupttätigkeit war bis dahin weniger das Entwerfen, als die Suche und Berechnung von statischen und konstruktiven Lösungen gewesen. Le Corbusiers Vertrauen und Interesse an Xenakis’ Fähigkeiten, vor allem durch dessen Beitr.ge zum Kloster von La Tourette, brachten ihn dazu, den Entwurf ganz an ihn abzugeben – denn wer, wenn nicht Xenakis, konnte seinem Anspruch einer esthétique scientifique besser nachkommen? Für Xenakis war dies eine ideale Möglichkeit, seine Versuche, Klang und Architektur auf einer Ebene zu vollziehen, in einem Projekt zu erproben, das wie dafür geschaffen war.

(5) Iannis Xenakis, Philips-Pavillon, Grundriss, 1957
© Fondation Le Corbusier/Bildrecht, Wien, 2016

Während Xenakis in seinen Kompositionen eigene Methoden entwickelte, welche er aus der Architektur, der Mathematik und der Physik entlehnte, so vollzog er nun im Entwurf dieses Pavillons den umgekehrten Weg, indem er diese Methoden und Inhalte in die Architektur übertrug. Dabei ging es wiederum um die Suche einer Syntax, welche gerade Linien, für die er eine große Faszination hatte, in eine Ordnung zu bringen vermochte. Xenakis’ Interesse an Formen und – weiter gefasst – an einer generellen Morphologie ermöglichte ihm die Entdeckung einer solchen Syntax in der mathematischen Konstruktion von hyperbolischen Paraboloiden – aus windschiefen Rechtecken erzeugte mathematische Regelflächen, deren „erzeugende“ Linien lauter aneinandergereihte Geraden darstellen. Die physikalische Dimension der Ordnung und des Gleichgewichts, das aus dem Chaos entsteht, übersetzt Xenakis hier in die Herstellung eines künstlichen Gleichgewichtszustandes von Kräften, wodurch er das Konzept der Harmonie in der Architektur auf eine materielle Ebene bringt und dadurch neu definiert. Die Folge war eine mithilfe der darstellenden Geometrie vollbrachte Konstruktion, die visuell sehr weit von überlieferten Proportionsvorstellungen wie dem Goldenen Schnitt entfernt war und in ihrer Komplexität nahezu auseinanderzufallen drohte. „If there is an ,intimate connection‘ between it [Pavillon] and Metastaseis, it lies more in their particular way of resolving concept and formation, using geometry to structure relations of succession and simultaneity, than in a specific visual vocabulary.“11

(6) Philips-Pavillon, Expo 58 Brüssel, 1958
© Philips Archives

Abseits von dieser methodischen Übereinkunft von Klang als Gestaltungsidee war der Pavillon eine akustische Architektur par excellence. Edgar Varèses „Poème Électronique“ sowie Xenakis’ „Interlude Sonore“ sollten über die sogenannten Klang-Routen (Routes Sonores) erklingen, um alle möglichen Raumeffekte zu erzeugen. Trotz dieses Bestrebens, eine künstlich erzeugte und kontrollierte sensorielle Umgebung zu schaffen, legte der Entwurf des Pavillons den Anspruch auf eine architektonische Gestaltung nicht ab. Ganz im Gegenteil war es eben dieser Anspruch, welcher so transdisziplinär und wissenschaftlich wie nur möglich eine Form generiert, die ein ultimatives Raumerlebnis ermöglichen sollte. Die Erkundung von Gleichgewichtsstrukturen, welche aus der Wahrnehmung von akustischen Phänomenen entstanden ist und in der Erfahrung im Pavillon zu diesen auditiven Erfahrungen zurückgeführt wurde, wurde hier ins Extrem getrieben.

(7) Le Corbusier, Philips-Pavillon, Aufbau des Lehrgerüsts, Expo 58 Brüssel, 1958
© Philips Archives

Die Architektur des Pavillons war somit ein körperliches und sensorielles Medium, in dem Klang als Qualität auf der visuellen, der akustischen, der auditiven und der materiellen Ebene eine intrinsische Beziehung zwischen Mensch und Architektur herstellte. Von den Entwurfsmethoden bis hin zu der akustischen Realisierung wurde das Projekt von Klang informiert, was den Gebäudeentwurf maßgeblich prägte und eine Konvergenz von Klang, Komposition und Architektur hervorbrachte. ■


1 Eine ausführliche Genese des Projektes bietet Treib, Marc: Space Calculated in Seconds. The Philips Pavilion, Le Corbusier, Edgard Varese, Princeton 1996.

2 Für Le Corbusier verkörpert es die Synthèse des Arts.

3 Nach 1959 widmete sich Xenakis ausschlie.lich der Komposition, mit Ausnahme der „Polytopes“, einigen Wettbewerben und Privathäusern.

4 Xenakis, Iannis: „Genese de l’architecture du Pavillon“, in: Revue Technique Philips 1 (1958), 3. .bers. S.Z.

5 Die umfassendste Analyse dieses Frühwerks bietet: Baltensperger, André: Xenakis und die stochastische Musik. Komposition im Spannungsfeld von Architektur und Mathematik, Bern 1996.

6 Xenakis, Iannis: Musique Architecture, Tournai 1971, 26.

7 Ebd.

8 The concept of stochastic music is elucidated by Xenakis in Musiques Formelles (Paris, 1963).

9 Xenakis bezieht sich auf Physiker und Mathematiker wie J. Bernoulli, Andrej A. Markov, D. Bernoulli, C.F. Gauss, L. Boltzmann, C. Maxwell, S.D. Poisson und R. Brown.

10 Scherchen zitiert nach Matossian, Nouritza: Xenakis, Lefkosia 2005, 88.

11 Clarke, Joseph: „Iannis Xenakis and the Philips Pavilion“, in: The Journal of Architecture 2,17 (2012), 221.