„Wir müssen aus dem Betonbau raus!“[1] fordert der Klimaforscher Joachim Schellnhuber und mahnt eine bevorstehende, dringend notwendige Baurevolution an, in der CO2-intensive Baumaterialien wie Stahl und Beton möglichst bald von Holz oder Bambus abgelöst werden sollten. Eine seiner aktuellsten Studien,[2] die er gemeinsam mit einem internationalen Forscherteam der Yale School of Forestry und dem Potsdam Institut für Klimaforschung durchgeführt hat, belegt, dass eine holzzentrierte Baukultur weltweit zu einer bedeutenden CO2-Emissionssenkung und damit zu einer Klimastabilisierung führen würde. Dieses Szenario, in dem der Einsatz von Holz als Baumaterial deutlich gesteigert werden soll, ist jedoch nur dann möglich und sinnvoll, wenn auch die Wälder in Zukunft nachhaltig und sorgfältig bewirtschaftet werden. GAM.17 stellt sich dieser Forderung und fragt, wie ein solcher Prozess des grundsätzlichen Umdenkens unserer Rohstoff- und Materialverwendung in der Architektur stattfinden kann.
Um die erweiterten ökologischen Zusammenhänge des Holzbaus mit den gegenwärtigen architektonischen Perspektiven auf das zukunftsträchtige (Bau-)Material Holz vereinen zu können, ist es aus dem Blickwinkel von GAM.17 notwendig, zunächst einmal den Begriff des Materials von seinem eindimensionalen Verständnis als bloßer, überall und leicht verfügbarer materieller Rohstoff zu befreien. Holz als Material aufzufassen, vermag ohne die ökonomische, kulturelle und politische Dimension dieses Materials keinen zukunftsweisenden Sinn zu erzeugen, der über seine reine Verfügbarmachung hinausgehen würde. Aus diesem Grund geht GAM.17 davon aus, dass das Material Holz wie seine Verwendung mit kulturellen Traditionen verbunden ist und Holz als Gegenstand einer eigenen Industrieform und ihrer Ökonomie auch eine politische Geschichte besitzt. Daraus folgt, dass hinsichtlich der architektonischen Verwendung von Holz durchaus die Wirtschaftskreisläufe von Belang sind, in die eine Produktion und Verwertung von Holz ökonomisch eingebunden ist. Es erscheint notwendig, die Industrialisierung der Waldbewirtschaftung zu hinterfragen, die zu einer höheren Anfälligkeit für klimawandelbedingte Wetterextreme geführt hat; sowie die Konjunktur, die der Baustoff Holz gegenwärtig auch bei Bauten im urbanen Kontext erlebt, durch eine historische Analyse seiner kulturellen Vereinnahmungen und Bedeutungszuschreibungen zu kontrastieren.
GAM.17 stellt sich die weiterreichende Frage, ob mit dem Material und Baustoff Holz eine Dekarbonisierung der Bauwirtschaft erreicht werden könnte, die unter dem Begriff der Nachhaltigkeit derzeit diskutiert wird. Dabei gilt es ebenfalls zu hinterfragen, ob uns die Nachhaltigkeitsdebatte, die sich das Material Holz gerne auf ihre Fahne heftet, tatsächlich einen Schritt weiterbringt oder eher den Blick auf erweiterte Lösungsansätze verstellt. Die in dieser Ausgabe von GAM versammelten Beiträge haben somit gemeinsam, dass sie Holz als architektonisches Material einer Neubewertung unterziehen und seine Potenziale für eine nachhaltige Bauwirtschaft ausloten – aus kulturhistorischer, ökologischer, handelspolitischer, konstruktiver und ästhetischer Sicht.
Eröffnet wird GAM.17 mit Beiträgen, die sich mit der kulturgeschichtlichen Relevanz von Holz auseinandersetzen. Stephan Trüby nimmt das Thema Holz historisch und politisch in den Blick und richtet seinen kritischen Fokus auf die „deutsche Silvapolitik“, die sich in rechtspopulistischen (architekturtheoretischen) Ausprägungen des 19. Jahrhunderts über Heimatschutzbewegungen des 20. Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischeren rechtsökologischen Projekten manifestiert. Anschließend zeigt der Cartoonist Tom Körner eine kleine, illustre Auswahl seiner traditionsreichen Comic-Serie aus der TAZ, in der sich die Liebe zum deutschen Wald in immer neuen und augenzwinkernden Varianten des Bäume-Umarmens artikuliert. Anselm Wagner beschreibt den allgemeinen Imagewandel, den der Holzbau von der Antike über das 19. Jahrhundert bis heute im mitteleuropäischen Raum vollzogen hat und argumentiert am Beispiel Peter Zumthors einen material turn, der Architektur nicht nur rein konzeptuell, sondern materialistisch denkt. Anschließend gibt Reyner Banham in seinem hier abgedruckten Konferenzbeitrag aus dem Jahre 1972 einen erkenntnisreichen, an manchen Stellen amüsanten Rückblick auf die Kultur und Bedeutungsgeschichte von Holz und seinen bauwirtschaftlich effizienteren Nachfolger, das Holzimitat, in dessen „perfektionierten Reinkarnationen“ er eine in der nordamerikanischen Kultur verankerte Sehnsucht nach dem verschwundenen „unzuverlässigen“ Baumholz erkennt.
Banhams Text leitet zum zweiten Teil von GAM.17 über, der sich mit den Materialeigenschaften von Holz und ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Baupraxis beschäftigt. Die Frage, wann ein Holzbau überhaupt ein Holzbau ist, steht im Zentrum von Anne Isopps Text, die in Hybridbauten, d.h. der Verwendung von Holz mit anderen Materialien, das größte Zukunftspotenzial vor allem für den mehrgeschossigen Wohnbau erkennt und dies am Beispiel der Holz-Beton-Verbunddecke belegt. Im Anschluss setzt sich Stefan Winter mit sechs kritischen Kernfragen zum Baustoff Holz auseinander, deren Beantwortung zum Ziel haben, den Holzbau weiter voranzubringen und zu belegen, dass Holz den anderen Baustoffen auf eine spezifische Art überlegen ist. Urs Hirschberg zeigt anhand von an der TU Graz entwickelten Pavillons, inwiefern sich mithilfe digitaler Methoden eine Konstruktionslogik direkt aus dem Material ableiten lässt. Digitalisierung, so das Argument, trägt nicht nur zu einem besseren Verständnis der Materialeigenschaften von Holz bei, sondern ermöglicht auch eine Verfeinerung desselben in Entwurf und Fabrikation. Im nachfolgenden Interview mit Kai Strehlke, der die digitalen Prozesse der Schweizer Holzbaufirma Blumer Lehmann leitet, wird zudem deutlich, wie komplexe Freiformprojekte aus Holz, wie z.B. das neue Swatch Hauptgebäude in Biel von Shigeru Ban, materialgerecht entwickelt und umgesetzt werden. Anhand einer vom „verästelten Habitus des Waldes“ abgeleiteten Astwerkdecke verdeutlicht Jens Ludloff, inwiefern Holzbau dazu in der Lage ist, ein neuartiges, nachhaltig-erfahrbares Raumvokabular zu generieren – ein Entwurfskonzept, das auf dem Zusammenwirken von Ökologie, Forst- und Bauwirtschaft beruht. Schließlich markiert die Fotostrecke von Formafantasma (Andrea Trimarchi & Simone Farresin) den Übergang zum dritten Teil dieser GAM-Ausgabe und verweist auf die ökologische und politische Verantwortung, die der architektonische Umgang mit Holz verlangt. Als Teil der umfangreichen Ausstellung „Cambio“ erzählen ihre Fotografien von der komplexen Materialgeschichte der dreizehn Millionen Bäume, die 2018 durch die Sturmkatastrophe im italienischen Fleimstal zu Fall gebracht wurden und durch die lokale Bevölkerung verarbeitet werden mussten.
Der dritte Teil von GAM.17 enthält Beiträge, die Holz als Material in ein breiteres Beziehungsgeflecht von Umweltschutz, Holzwirtschaft und Handelsketten stellt. Eröffnet wird dieser Teil durch eine Fotostrecke von Don Fuchs, die das zerstörerische Ausmaß des Gospers Mountain Buschfeuers im Nordwesten Sydneys abbildet und damit gleichzeitig die Fragilität wie auch die Regenerationskraft von Holz eindrucksvoll vor Augen führt. Welche bedeutsame Rolle der Wald als Ökosystem für die Architektur spielen kann, zeigt Laila Seewang in ihrem Beitrag, der im Nordwesten der USA ein sogenanntes „Timber Territory“ lokalisiert, in dem Holz nicht bloß als Material, sondern vielmehr als komplexe Infrastruktur verstanden wird. Im Anschluss daran deckt Francesca Zanotto die globalen Ausbeutungsverhältnisse und undurchsichtigen Praktiken im Holzhandel auf und zeigt, wie Architektur ihr Handlungsfeld erweitern und zu einem fairen Gebrauch von Holz als Naturressource beitragen kann. Welche Rolle dabei makroskopische Analysen von Holz spielen, erklären Alan Crivellaro und Flavio Ruffinatto, die durch die Betrachtung der Zellstruktur von kommerziellen Holzproben deren tatsächliche Art und Herkunft identifizieren können. Holz besitzt demzufolge spezifische Charakteristika, die es genau zu analysieren gilt, um unser gegenwärtig vorherrschendes, eindimensionales Materialverständnis von Holz zu überdenken. In diesem Sinne wünschen wir eine anregende Lektüre.
[1] Joachim Schellnhuber im Interview mit Benedikt Narodoslawsky: „Klimaschutz wird nicht honoriert“, Falter, 24. November 2020, 18–29, hier 19.
[2] Vgl. Churkina, Galina/Organschi, Alan/Reyer, Christopher P. O./Ruff, Andrew/ Vinke, Kira/Liu, Zhu/Reck, Barbara K./Graedel, T. E./Schellnhuber, Hans Joachim: “Buildings as a Global Carbon Sink“, Nature Sustainability 3 (2020), 269–276.