GAM 18

Editorial

Petra Petersson, Christina Linortner

Architektur(ausbildung) stellt den Anspruch, eine formende oder treibende Kraft in gesellschaftlichen und räumlichen Veränderungsprozessen zu sein, erfolgt aber in Räumen und innerhalb einer Institution, die diesen Ansprüchen selbst meist nicht gerecht werden. Fragen zur Architekturausbildung stellen sich oft anhand der Anpassung des Curriculums: Soll es nun eher zu einer generalistischen und humanistischen Bildung führen? Oder einer Ausbildung zu einer bauenden Fachkraft? Oder gilt es, Architektur als Kunst zu vermitteln? Während diese Fragen an den Architekturfakultäten immer wieder in mehr oder weniger lang wiederkehrenden Abständen und Intensitäten diskutiert werden, werden die dafür notwendigen Räumlichkeiten und ihre grundsätzliche Ausgestaltung eher als gegeben hingenommen. In Hörsälen und Seminarräumen wird unterrichtet, in Studios gezeichnet und produziert, in Büros verwaltet, organsiert und geforscht. Die Möglichkeit, sich mit dem Thema ausführlicher auseinanderzusetzen, beispielsweise anhand der eher seltenen Gelegenheit, eine neue Architekturschule zu bauen, ist oft auch dann durch schon vorgegebene Raumprogramme begrenzt. Das Wesen der vorgegebenen Räume im Verhältnis zu Funktion, Größe oder Form bleibt ähnlich den bereits erprobten, nicht nur in Architekturfakultäten auch in allen anderen universitären Disziplinen.

Universität ist Institution und um ihre Räume zu betrachten, muss man gleichzeitig auch die dahinterliegenden Strukturen erkennen. Dieser Zusammenhang lässt sich im Kontext der Architekturausbildung besonders gut erkennbar machen, denn, so Lesley Lokko, Gründerin des kürzlich in Accra, Ghana geschaffenen African Futures Institute, „in den Architekturschulen machen wir nichts anderes, als Studierenden beizubringen über Strukturen nachzudenken.“[1] Es ist dabei äußerst hilfreich, wie Lokko weiter argumentiert, „ein tieferes Verständnis dafür, was wir mit ‚strukturell‘ meinen“, zu entwickeln, „[s]eien es strukturelle Psychologien, strukturelle Traumata, struktureller Rassismus, strukturelle Benachteiligungen. […] Mithilfe dieses spezifisch architektonischen Begriffs war ich nun in der Lage, den Studierenden das Problem anschaulich zu machen, […] sollten sie sich mit theoretischen, technischen und gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzen. Denn letzten Endes wäre beispielsweise auch die Apartheit ohne die Komplizenschaft der Architektur nicht möglich gewesen, die Rassentrennung in Südafrika wurde in räumlicher Form umgesetzt.“[2]

In dieser Ausgabe wird die Frage nach der Architekturausbildung über die universitären Räume auf die (städtische) Umwelt ausgeweitet und die Lernerfahrung auf unterschiedlichen Ebenen in den Fokus gerückt. Ausgehend vom räumlichen und institutionellen Status quo in Österreich stellt Petra Petersson zu Beginn Überlegungen zu sozialen und strukturellen Grenzen und Durchlässigkeiten von Architekturausbildung an. Im Anschluss wirft Charlotte Malterre-Barthes in ihren „Notizen zur pandemischen Lehre“ einen Blick in den virtuellen Raum und durchleuchtet den Moment der Krise, den die Pandemie weltweit ausgelöst hat durch die Linse der Architekturschulen. In der Verlagerung der Lehre in den virtuellen Raum, respektive in die Welt der heute als Homeoffices genutzten, privaten Schlaf-und Wohnräume, offenbart Malterre-Barthes wie durch unhinterfragte Nutzung von Technologie Privilegien und soziale Ungleichheit mittransferiert werden und sich durch diesen Standortwechsel noch stärker herauskristallisieren. Christina Linortner betrachtet in ihrem Beitrag „Off Campus“ wie weit in der jüngeren Geschichte der Architekturausbildung verschiedene Versuche, ebendiese Räumlichkeiten zu verlassen, überhaupt eine Überwindung ihres institutionellen Kontextes ermöglichen können.

Architekturausbildung aus dem rein universitären Kontext zu lösen und nicht nur hin zum urbanen Umfeld zu öffnen, sondern teilweise gänzlich zu vergesellschaften und zu „entschulen“, versuchten in etwa zeitgleichen Vorstößen Shadrach Woods, Giancarlo De Carlo und Colin Ward. Diesem heute als radikale Pädagogik bezeichneten Unterfangen nähern sich Federica Doglio, Nicolas Moucheront, Sol Perez-Martinez und Adam Wood in einem Gespräch an. Mit einer aktuellen Form der Lehre, genauer mit der Entstehung und (dekolonialen) Kritik eines zeitgenössischen transkontinentalen Lehrformats zwischen Südafrika und Österreich, nämlich Design Build, setzt sich Marlene Wagner in ihrem Beitrag auseinander und ruft zu einer Kultur des kritischen Verlernens, aber auch zum Entwurf alternativer Modelle auf. „The Casa“, ein hybrides und partizipatives Studio-Projekt der London Metropolitan University im italienischen Belmonte Calabro zeigt, welche Potenziale sich durch längerfristige Kollaborationen außerhalb der Universität für strukturschwache Regionen im europäischen Kontext und deren unterschiedlichen AkteurInnen eröffnen.

Der Aufgabe, neoliberalen Tendenzen der Flexibilisierung zu trotzen und Alternativen zu entwickeln, stellt sich Hélène Frichot, indem sie anhand der im Feminismus begründeten „Care-Ethik“ über den Umzug der Architekturfakultät an der KTH Stockholm in ein neues Gebäude im Jahr 2015 reflektiert. Darauf folgt eine Zusammenstellung mehrerer Bildpaare, die im Rahmen einer Ausstellung, kuratiert von Björn Ehrlemark, zu Ehren des von Frichot zuvor thematisierten, 2014 aufgelassenen Fakultätsgebäudes aus den 1970er-Jahren gezeigt wurden. In genau demselben Zeitraum, in dem die Architekturschule in Schweden gebaut und bezogen wurde, besiedelte die Architekturfakultät der ETH Zürich temporär das Globus-Provisorium – ein ehemaliges, für den temporären Lehrbetrieb adaptiertes Warenhaus, das, wie Lucia Pennati in ihrem Beitrag verdeutlicht, als Raum für pädagogische Experimente, Debatten und kulturelle Ereignisse eine maßgebliche Rolle in der Entwicklung eines neuen Currriculums an der ETH Zürich einnahm.

Eine radikale Alternative zur herkömmlichen Architekturausbildung identifiziert Simran Singh, indem sie kritisch auf die aktuellen Revitalisierungsmaßnahmen der „heiligen Stadt“ Varanasi blickt und für eine Weiterentwicklung eines maturbanism plädiert, wie er sich bereits historisch entlang des Gangesufers in Form einer engmaschigen urbanen Textur aus Hofhäusern entwickelt hat. Singh interpretiert die Höfe, in denen sich das Arbeits- und Privatleben der Weberfamilien abspielt, als alternierende Räumlichkeiten, die ihren NutzerInnen eine Freiheit gewähren, welche die in der Architektur üblichen planerischen Festlegungen von Funktionen in so einer Form nicht zulassen. Im Gespräch mit Karine Dana erklären Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal anhand ihres Entwurf für die ENSA Nantes, welche Bedeutung Programmüberschreitung und die Einbindung des angrenzenden städtischen Umfeld für Universitäten – im konkreten Fall für eine Architekturschule – haben. Der Soziologe Jean-Louis Violeau ergänzt diese Darstellung aus NutzerInnenperspektive und zeigt die vielfältigen urbanen Qualitäten und Nutzungen innerhalb des Gebäudes auf. Abschließend bespricht Petra Eckhard in einem Interview mit Jeannette Kuo von Karamuk Kuo Architects die Anforderungen an zukünftige Ausbildungsst.tten am Beispiel ihrer noch im Bau befindlichen Erweiterung der Rice University School of Architecture in Houston, Texas.

Diese Ausgabe soll als Impuls dienen, aus dem eigenen Kontext hinauszutreten und einen anderen Blickwinkel auf die Institution einzunehmen, um die notwendigen räumlichen wie strukturellen Veränderungen voranzutreiben. ■


[1] Lesley Lokko und Tom Emerson im Gespräch mit Tonderai Koschke und Sarah Maafi in ARCH+ 246 – Zeitgenössische feministische Raumpraxis (2022): 168–173, hier 172.

[2] Ebd.