GAM 13

Editorial

Irmgard Frank, Claudia Gerhäusser, Franziska Hederer

Expeditionen werden meist assoziiert mit Reisen zu noch nicht erforschten Erdteilen und Regionen: Nord- und Südpol, die höchsten Gipfel der Erde, die Tiefsee, Urwälder und Wüsten. Für den Entschluss, in unbekanntes Terrain vorzudringen, sind Neugier, Unerschrockenheit und die Offenheit, Unerwartetem zu begegnen, die wichtigsten Voraussetzungen. Die Expedition selbst ist hingegen ein konkreter Vorgang, der präzise Planung, praktisches Denken und pragmatisches Vorgehen verlangt und dem die direkte Erfahrung eingeschrieben ist. Ergebnisse einer Expedition sind abhängig von der Art des Umgangs mit ihrem Verlauf. Dadurch entstehen Diskrepanzen zwischen Karte und Weg, Vorstellung und Realität. Mit jeder Expedition werden neue Daten erhoben, wird Wissen generiert oder korrigiert.

In GAM.13 Spatial Expeditions wird mittels der Methode der Expedition der Fokus nicht auf ferne, unbekannte Räume, sondern auf den uns umgebenden, gebauten Raum gelenkt, den es allerdings mit geändertem Blickwinkel und/oder ungewohnter Sichtweise neu zu entdecken gilt. Dabei sind es vor allem die nicht-visuellen Zugänge, die uns erfolgversprechend scheinen, Neues im scheinbar Bekannten zu entdecken. Die Wahrnehmung von Raum mit all unseren Sinnen bildet u.a. die Basis phänomenologischer Forschung. Man möchte daher meinen, dass raumphänomenologische Überlegungen einen zentralen Bestandteil nicht nur jeder Analyse von Architektur, sondern auch jeder architektonischen Entwurfsentscheidung bilden. Über die physisch erfahrbaren Eigenschaften von Raum und seine atmosphärischen Qualitäten findet dennoch innerhalb der Architekturdisziplin kein kontinuierlicher Diskurs statt, wie man es aus anderen Disziplinen sehr wohl kennt. Peter Zumthors paradigmatische Schriften Architektur Denken oder Atmosphären, die ein raumphänomenologisches Verständnis von Architektur ins Zentrum rücken, gehören zu den wenigen Ausnahmen. In der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung dominieren vielmehr die Stimmen nicht gestaltender Disziplinen. Architektonische Diskurse zu Raumerfahrung und Atmosphäre bleiben meist auf das Virtuelle beschränkt, in dem die Orte des Erfahrens immer fiktiv bleiben. Die Fokussierung auf den simulierten Raum wirft aber zwangsläufig die Frage nach der Bedeutung von realen Räumen und deren Entdeckung in einer bereits kartografierten Welt auf.

Diese Feststellungen nehmen wir zum Anlass, elementare Parameter der Raumwahrnehmung zurück ins Zentrum einer Betrachtung von Architektur zu stellen, die Rückschlüsse auf die eigentliche Raumgestaltung bereithalten. Die Methode der Expedition ermöglicht dabei einen experimentellen Umgang und bietet die Chance, neue Erkenntnisse und Sichtweisen auf den gebauten Raum sowie auf Praktiken seiner Erkundung zu gewinnen.Wenn wir von Bekanntem sprechen, so meinen wir etwas, was uns vertraut und geläufig ist. Konzentrieren wir unser Denken auf eine nicht so beachtete Stelle im uns Vertrauten, kann dies neue Er kenntnissen oder Änderungen im Umgang mit der Materie bewirken.

Im ersten Abschnitt – Reading Environments – nähern wir uns daher bereits Bekanntem in ungewohnter Weise an. Karen van den Berg und Christina Buck geben einen kurzen Überblick über den Raumbegriff, wie dieser in den verschiedenen Disziplinen verhandelt wird und stellen eine Reihe experimenteller Raumerkundungen in der Architektur vor. Eric Ellingsen lädt ein, ihn auf einer seiner Expeditionen durch die griechische Stadt Thessaloniki zu begleiten und mit ihm die eigene, gewöhnliche Wahrnehmung gehörig durcheinander zu bringen. Für die gewöhnliche Raumwahrnehmung sind ephemere Elemente wie Schall und Geruch von entscheidender Bedeutung, werden aber in der Regel ausgeblendet. Irmgard Frank geht dem Geruch raumkonstituierender Materialien nach und verleiht ihnen dadurch erhöhte Aufmerksamkeit. Sam Auinger und Dietmar Offenhuber erkunden das akustische Profil von Städten, machen uns auf die oft unterschwellig vorhandenen Geräuschkulis sen aufmerksam und sensibilisieren damit auf die auditiven Qualitäten von Raum und Ort. Gabi Schillig verweist schließlich auf die Kraft vorhandener Räume, die mittels künstlerischer Interventionen zu dialogischen Räumen werden und damit RaumnutzerInnen zur Interaktion mit diesen auffordern.

Expeditionen sind außerdem Reisen ins Unbekannte mit dem Ziel, Neues zu entdecken. Die Ungewissheit dessen, was einen erwartet, die Bereitschaft, Umwege in Kauf zu nehmen und Rückschläge einzustecken wird aufgewogen durch die Chance, Zukunftsweisendes zu erschließen. Im zweiten Teil von GAM.13 – Exploring Terrains – wird mit unterschiedlichen Werkzeugen und Denkansätzen Unerforschtem nachgegangen. Im von Claudia Gerhäusser mit Sebastian Behmann geführten Interview steht der experimentelle Zugang des Studio Other Spaces im Zentrum. Dieser wird anhand eines Projektes im Ilulissat Eisfjord deutlich gemacht, der die entwerfenden ArchitektInnen mit völlig neuen Bedingungen konfrontiert hat. Neeraj Bhatia nutzt den ephemeren Baustoff Luft und deren Temperatur. Er erzeugt Raum ohne physisch gebautes Äquivalent und choreografiert darin Interaktionen der Menschen. In der Wechselwirkung von Mensch und Temperaturzonen entstehen auch Wechselwirkungen von Mensch zu Mensch. Angesichts eines Paradigmenwechsels im Verhältnis von Natur und Mensch hin zu einem Verständnis zweier sich gegenseitig beeinflussender Systeme stehen wir vor neuen Herausforderungen im Bauen. Klaus K. Loenhart führt anhand des österreichischen EXPO Pavillons in Mailand 2015 aus, mit welchen technischen Mitteln die gewünschte Raumatmo sphäre erzeugt wurde und welche neuen Erkenntnisse für das Leben im Anthropozän daraus gewonnen werden konnten. Samuel Zwerger beschreibt ein zu seiner Zeit zukunftsweisendes Projekt des Musikers Iannis Xenakis. Der 1958 für die EXPO in Brüssel entstandene Philips-Pavillon war eine entwerferische Expedition, durch die musikalische Notation in architektonische Form gebracht wurde. Und Philippe Rahm entwickelt mit dem Fokus auf klimatische Anforderungen an den Raum neue Raumkonstellationen, die auch den NutzerInnen eine Expedition in Unbekanntes abverlangen. Neu erscheint uns ebenso die Art und Weise, wie die Künstler- und Architektengruppe Numen/For Use Räume bildet. Ohne Konstruktion und mit weichem Material lässt sie statisch belastbare und begehbare Räume ohne Bodenkontakt entstehen.

Der dritte und letzte Teil von GAM.13 – Mapping Transitions – dokumentiert Expeditionen, die Veränderungen thematisieren und damit nicht festgeschrieben sind. Sie berichten von Entdeckungen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen, sondern von einem Zustand in einen anderen führen. Das schließt auch mehrdeutige und widersprüchliche Qualitäten von Räumen ein. Malcolm McCullough widmet sich neuen Praktiken räumlichen Vorstellungsvermögens und untersucht, inwiefern sich gebauter Raum durch „ambiente“ Information, wie sie in einer durch Medien erlebten Welt erzeugt wird, verändert hat. Damit vermutet er eine raumphänomenologische Entwicklung, die in Zukunft den architektonischen Entwurf zu beschäftigen hat. Franziska Hederer analysiert Veronika Mayerböcks Licht- und Sound-Performances mit und im Raum, die von deren Ausbildung zur Architektin geprägt und mit ihrer tänzerischen Praxis verwoben sind. Shreepad Joglekars Fotoessay lässt uns an der Expedition in ein US-Truppenübungsdorf teilhaben, in dem Fiktionen real sind und das Reale fiktiv wird. Marta Traquino transferiert eine Wohnung in Lissabon durch künstlerische Intervention in den Zustand des Absurden und konfrontiert deren BesucherInnen mit der Unsicherheit oder auch der Neugier, die offenstehende Türen in uns auslösen. Und in der Fotostrecke von Martin Grabner über Tel Aviv zu Jom Kippur wird sichtbar, wie sich die Lesbarkeit von Raum wandelt und dessen Wahrnehmung ändert, wenn eine vom Alltag abweichende Raumaneignung stattfindet.

Es ist den einzelnen Disziplinen eigen, einen jeweils spezifischen Blickwinkel auf die Wirklichkeit zu haben. Aus diesem Bezugssystem heraus denkend und agierend sich in andere Bezugssysteme hineinzuwagen, eröffnet die Chance, neue Wirklichkeiten aufzuspüren und Fenster in zukünftige Räume – gedachte und gebaute – zu öffnen. Wir sind mit dem Anspruch angetreten, Grenzbereiche zu betreten, auch noch nicht ganz Erkennbares, erst verschwommen Wahrnehmbares ausfindig zu machen und hoffen, mit dem Themenschwerpunkt von GAM.13 Spatial Expeditions einen Beitrag dazu zu leisten.

Wie seit vielen Jahren üblich, folgen auf die thematischen Beiträge Rezensionen aktueller Publikationen, die wir für den Architekturdiskurs relevant halten. Das Spektrum reicht diesmal von Entwurfs- und Wahrnehmungstheorie über Forschungsmethoden für ArchitektInnen, eine Medienanalyse des Architekturbuches, Stadtplanungstheorie und Landschaftsarchitektur bis zu architekturgeschichtlichen Themen, die mit Neuerscheinungen über die Reformarchitektur um 1900, die Planung von KZs und das Werk von Yona Friedman ein sehr breites Feld abdecken.

Abgerundet wird GAM.13 von den Faculty News, die einen Einblick in wichtige Ereignisse und Aktivitäten der Architekturfakultät der TU Graz des vergangenen Jahres vermitteln. Zu Berichten über Personelles, Publikationen, Preise, Ausstellungen und Veranstaltungen ist die neue Rubrik Forschung hinzugekommen, welche die seit geraumer Zeit anwachsenden Leistungen unserer Fakultät auf diesem Gebiet verstärkt in den Fokus rücken soll. Über unsere Pläne für GAM.14, das im April 2018 erscheinen wird, informieren wir mit unserem Call for Papers auf den letzten Seiten. Mit dieser Ausgabe erscheint GAM erstmals bei JOVIS, Berlin, der sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten deutschen Architekturverlage mit Vertriebsnetz in Asien und Amerika entwickelt hat. Als zweisprachige Zeitschrift fühlen wir uns bei JOVIS besonders gut aufgehoben und freuen uns über die weitere Zusammenarbeit. Wir danken unseren Unterstützern sowie allen Mitgliedern unserer Fakultät und den internationalen AutorInnen, die mit ihren vielfältigen Expertisen zum Gelingen dieses Heftes beigetragen haben, und wünschen eine spannende Lektüre.