Intuition ist von essenzieller Bedeutung für den Architekturentwurf. Ganz egal, wie rational und vernünftig man vorgeht, der Anteil der Entwurfsentscheidungen, den man als ArchitektIn intuitiv trifft oder sogar treffen muss, bleibt stets groß und bildet oft genug den Unterschied zwischen guten und mäßigen Entwürfen. Interessanterweise wird aber unter ArchitektInnen kaum darüber gesprochen, wie Intuition genau funktioniert. Das mag daran liegen, dass Intuition etwas ist, das im Unbewussten passiert und wir deshalb vielleicht gar nicht darüber sprechen können. Müssen wir also – mit Wittgenstein gesprochen – darüber schweigen?
Für die zehnte Ausgabe von GAM haben wir dazu aufgerufen, das Schweigen zu brechen. Unser Titel „Intuition & the Machine“ erklärt warum: Die digitalen Maschinen, mit denen wir es in der Architektur immer mehr zu tun haben, fordern diese Auseinandersetzung heraus. Denn sie sind längst keine Maschinen im herkömmlichen Sinn mehr: Sie nehmen uns immer mehr kognitive Tätigkeiten ab und sie entwickeln sich rasant. Daraus entsteht das Spannungsfeld, dem wir uns in dieser Ausgabe von GAM widmen.
Das Thema scheint einen Nerv getroffen zu haben. Im Verhältnis zwischen ArchitektInnen und ihren Entwurfswerkzeugen ist einiges in Bewegung geraten. Dabei geht es nicht nur um die neuen digitalen Möglichkeiten, sondern gerade auch um unsere menschlichen Fähigkeiten, unser ästhetisches Empfinden, unser Gefühl, unsere Intuition. Werden auch sie immer mehr an den Computer delegiert? Oder ist es im Gegenteil so, dass sie durch die technischen Entwicklungen aufgewertet, in ihrer Bedeutung stärker erkannt, ja vielleicht sogar auf neue Weise eingesetzt werden können? Das sind Fragen, denen sich unsere AutorInnen auf den folgenden Seiten in unterschiedlicher Weise stellen.
Die landläufige Meinung zu Intuition ist nicht sehr einheitlich. Auf der einen Seite gibt es die Intuition als Motor unserer Kreativität, als unfehlbarer innerer Kompass, wie sie Albert Einstein beschrieben hat: „Der Verstand spielt auf dem Weg der Entdeckung nur eine untergeordnete Rolle. Es findet ein Sprung im Bewusstsein statt, nennen Sie es Intuition oder was Sie wollen, und die Lösung kommt zu Ihnen und Sie wissen nicht wie und warum.“[1] Auf der anderen Seite gibt es aber auch Skepsis, wie sie etwa in einem Bonmot des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt anklingt:„Unter Intuition versteht man die Fähigkeit gewisser Leute, eine Lage in Sekundenschnelle falsch zu beurteilen.“[2]
Auch in den Beiträgen dieser GAM Ausgabe gibt es keine einheitliche Auffassung von Intuition. Dass man intuitiv zu falschen Einschätzungen kommen kann, insbesondere in Bezug auf die digitalen Medien, wird öfter thematisiert. Viele Entwicklungen scheinen hier geradezu im direkten Widerspruch zu unserem gesunden Menschenverstand zu stehen. Im Bezug auf den Computer können wir unserer Intuition häufig nicht trauen. Andererseits ist gerade die Fähigkeit, Dinge zu erahnen, eine, die uns der Computer wohl nicht so bald abnehmen wird.
In guter GAM-Tradition sind die Beiträge dieser thematischen Ausgabe bunt und kontrovers. Zudem sind die Schreibenden zumeist Personen, die nicht nur beobachten und reflektieren, sondern auch aus eigener Erfahrung schreiben, weil sie aktiv involviert sind in Forschungen und Entwicklungen, die das Thema „Intuition & the Machine“ neu erschließen. Dadurch ergibt sich eine multiperspektivische Sicht, die viele aktuelle Positionen und Tendenzen des zeitgenössischen Architekturdiskurses zu Wort kommen lässt. Das Thema bringt es mit sich, dass auf den folgenden Seiten wenig von gebauter Architektur die Rede ist. Vielmehr geht es um das Entwerfen an sich und um die neuartigen Prozesse, die derzeit im Entwurf möglich werden. Vieles ist experimentell und manches scheint von einer Anwendung in der Praxis weit entfernt zu sein. Abgesehen davon, dass uns auch da unsere Intuition trügen könnte: Das Betrachten der grundsätzlichen Bedingungen, auf denen sich das Spannungsfeld zwischen Intuition und Maschine aufbaut, war uns bei der Auswahl der Beiträge wichtig.
Das Heft ist in drei Sektionen gegliedert: In der ersten, Senses and Tools, geht es um unsere Sinne und um das, was neuartige digitale Werkzeuge für sie und mit ihnen zu leisten vermögen. Wie kann ein anderer Umgang mit Komplexität aussehen, wie kann Freude im Gebrauch der neuartigen Werk zeuge entstehen, wie kann eine neue Arbeitsteilung zwischen digitalen und analogen Prozessen gefunden werden?
In der zweiten Sektion, Mind and Matter, sind Beiträge versammelt, welche den Akzent auf die philosophischen Grundlagen des Themas legen, bzw. auch eine Betrachtung der Entwicklung von algorithmischem Entwerfen über einen größeren Zeitraum vornehmen. Die Anfänge der „Paperless Studios“ werden hier ebenso kritisch diskutiert wie der Einfluss der Postmoderne und jener der Kybernetik, aber auch der Mathematik und der Philosophie auf das heutige entwerferische Denken.
In Interactions and Mutations, der dritten Sektion von GAM.10, sind einige praktische Anwendungen neuartiger, interaktiver Gestaltungs- und Fertigungsprozesse versammelt. Sie zeigen auf, wie sich das Themenspektrum der Architektur wandeln und erweitern kann und welche überraschenden Möglichkeiten entstehen können, wenn Maschinen zu Partnern werden und Materialien digital informiert werden.
Den Abschluss der einzelnen Sektionen bildet jeweils ein Interview: mit der Psychologin Edith Ackermann, mit dem ETH-CAAD-Forscher Ludger Hovestadt und mit dem Leiter des MIT Self-Assembly Labs Skylar Tibbits. Aus dem Wirkungskreis der letzteren beiden stammen auch die Bildstrecken, die zwischen den Sektionen eingefügt sind: Digital Grotesque, Decibot und Fluid Crystalization – Forschungsarbeiten, die uns nicht nur durch ihren Innovationsgehalt, sondern auch durch ihre Schönheit zum Staunen bringen.
Das Staunen, nicht nur über das, was heute technisch möglich ist, sondern auch darüber, welche Empfindungen es in uns auszulösen vermag, ist ein wichtiger Aspekt dieses Heftes. Staunen kann uns davor bewahren, vorschnell zu urteilen, kann neue Erkenntnisprozesse anregen, kann unseren Verstand wie unsere Intuition herausfordern. In diesem Sinne hoffen wir, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, bei der Lektüre recht häufig ins Staunen kommen und damit angeregt werden zum Nachdenken über Maschinen und Intuition. Schließlich sei noch ein persönliches Wort erlaubt. Es ist dies die zehnte Ausgabe von GAM. In wechselnder Besetzung der Redaktion hat sich GAM in den letzten zehn Jahren als fester Bestandteil nicht nur der Grazer Architekturfakultät sondern auch des internationalen akademischen Diskurses über Architektur etabliert. Von der Gründungsredaktion bin ich der letzte noch Verbliebene – nun ist es auch für mich Zeit, mich neuen Herausforderungen zu widmen. Für die gute Zusammenarbeit und für die Möglichkeit, zum Abschluss diese Jubiläumsnummer als Gasteditor zu betreuen, möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich bedanken. Über die Pläne für die elfte Ausgabe von GAM informieren wir wie gewohnt durch den Call for Papers auf den letzten Seiten.
[1] Zitiert nach Larry Chang (Hg.): Wisdom for the Soul, Washington 2006, S. 179.
[2] Zitiert nach Monika Mörtenhummer (Hg.): Zitate im Management, Wien 2008, S. 192