Spricht man gegenüber Architekten, Fachplanern, Politikern und Nutzern das Wort „Dichte“ aus, ist den ersten Reaktionen häufig gemeinsam, dass Dichte eher quantitativ – zwischen „Bevölkerungsdichte“ und „baulicher Dichte“ – verstanden wird und man Übereinstimmung und Ablehnung gleichermaßen erfährt. Übereinstimmung in der Vorstellung, dass angesichts der in jeder Hinsicht knapper werdenden Ressourcen über neue Formen des Zusammenlebens nachgedacht werden muss. Ablehnung in der Vorstellung, dass dieses Zusammenleben auch ein Zusammenrücken bedeutet. Ähnlich wie in Roland Barthes Vorlesung „Wie zusammen leben“ („Comment vivre ensemble“), in der er das Phantasma artikuliert, „alleine leben zu wollen und zugleich, ohne Widerspruch dazu, zusammenleben zu wollen“,[1] scheinen auf der Ebene des städtischen Miteinanders somit verschiedene Handlungsstränge nebeneinander zu existieren. Diese erfordern jedoch gänzlich andere Lesarten und Lesbarkeiten von Dichte als die durch Kennzahlen und wenige Parameter festgelegten Möglichkeiten städtischer Planung. Was fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit den qualitativen Aspekten von Dichte, die ihre Legitimation nicht bloß dem Umstand verdankt, eine naheliegende Alternative zu Zersiedelung zu bieten.
Ansatzpunkt der vorliegenden Ausgabe von GAM ist daher die Überlegung, den Begriff „Dichte“ programmatisch durch vielfältige Lektüren von Dense Cities in theoretischen Manifesten, historischen Analysen, urbanen Entwicklungskonzepten und architektonischen Entwurfsansätzen zu entfalten, die geeignet scheinen, die Diskussion über neue Formen des städtischen Miteinanders zwischen Architekten, Fachplanern und Nutzern jenseits von Kennzahlen neu anzuregen.
Die Notwendigkeit näher zusammenzurücken, steht außer Zweifel. Nicht nur aus ökonomischen Gründen, wenn in Zeiten mangelnder Finanzkraft der Länder und Kommunen die Infrastruktur der zersiedelten Landschaft langfristig nicht gesichert werden kann, sondern auch aus ökologischen Gründen. Mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs wird für Wohnraum und für den motorisierten Individualverkehr aufgewandt. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass für die aktuelle Produktion von neuem Wohnraum mehr Energie aufgewendet werden muss als für 50 Jahre Betrieb desselben, dann ist völlig klar, dass die einzig entscheidende Frage die nach dem Standort der Immobilie ist. Das ist zunächst die wichtigste Entscheidung. Seit dem Jahr 2007 leben mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten und bis zum Jahr 2050 werden es mehr als 70 Prozent sein. Dennoch ist die Stadt der Zukunft keine smarte, supereffiziente Retortenstadt auf der grünen Wiese, sondern kann auch die bestehende europäische Stadt sein, die repariert wird, die Anpassungen an geänderte gesellschaftliche Bedürfnisse und geänderte Nutzerstrukturen erfährt und die im Zuge dessen dort, wo sinnvoll, verdichtet wird. Daher muss die Frage nach den räumlichen Bedingungen in einer dichteren Stadt mit urbanen Entwurfsansätzen verbunden werden, die Formen definieren, in denen wir auch näher zusammenrücken wollen.
In dieser Hinsicht bildet die funktionale und auch soziale Durchmischung der Stadt, die sich vornehmlich in den Erdgeschosszonen und im öffentlichen Raum manifestiert, einen zentralen qualitativen Aspekt der städtischen Dichte. Denn der öffentliche Raum, seine Gestaltung und die Möglichkeiten seiner Aneignung ist entscheidend für die Akzeptanz von Dichte. Je dichter eine Stadt wird, umso bedeutsamer wird auch die Aufenthaltsqualität dieser öffentlichen Räume, die als Handlungsräume die Chance auf atmosphärische Dichte als Ausdruck einer urbanen Lebenswelt bieten. Eine wichtige architektonische Aufgabe besteht hier insofern darin, die Übergänge vom öffentlichen ins Private angemessen zu gestalten. Denn die Gestaltungsqualität von Plätzen, Straßenräumen und Grünanlagen lässt sich nicht von den sie definierenden, begrenzenden und prägenden Bebauungen trennen. Der öffentliche Raum benötigt eine architektonische Fassung; die Rolle der Architektur geht hier über die Gestaltung von Gebäudehüllen und über die Entwicklung neuer intelligenter Typologien weit hinaus. GAM.08 Dense Cities stellt die Frage, wie diese aktive Rolle der Architektur bei der Entwicklung eines „living closer together“ aussehen und ausgestaltet werden kann. Welche Optionen können entwickelt werden, um den verschiedenen sozialen Gruppen ein hochqualitatives, vielfältiges und anpassungsfähiges urbanes Lebensumfeld zu schaffen?
Die Beiträge des ersten Teils – „Manifestos“ – stellen unterschiedliche Positionen der architektonischen Auseinandersetzung mit dem Thema Dichte zwischen gestalterischen Konzepten, ökologischen Faktoren, neuen Technologien und der sozialpolitischen Dimension der Stadtplanung vor. Damit wird in diesem ersten Teil von GAM.08 Dense Cities klar, dass städtische Dichte im Rahmen mittelgro.er europäischer Städte keineswegs mit der negativ-besetzten Hyperdichte von Megacities Asiens oder Südamerikas gleichzusetzen ist, sondern vielmehr Potenziale eröffnet, wie Ressourcen gespart und ein nachhaltiges Zusammenleben ermöglicht werden können.
Helmut Tezaks Fotoserie signalisiert den Übergang von architektonischen Manifesten zu konkreteren und lokalisierbaren Prinzipien, oder genauer historischen und analytischen Konfigurationen der räumlichen Nähe. So wie Tezak den Begriff Dichte in einem fotografischen Essay zur Stadt Graz veranschaulicht, beschäftigen sich auch die Beitr.ge des zweiten Teils – „Configurations“ – mit der Frage der tatsächlichen Konstitution oder Beschaffenheit von Dense Cities, also mit konkreten Fallstudien und Analysen, insbesondere zur Entstehung und den Verdichtungsprozessen europäischer Stadtzentren und deren gesellschaftspolitischen Auswirkungen.
In Folge ist der dritte Teil von GAM.08 – „Contexts“ – jenen vielschichtigen Kontexten gewidmet, denen der Diskurs über städtische Dichte und ihre räumlichen Konfigurationen ihre Bezüge entnehmen: urbanistische Theorie- und Planungsmodelle, Begriffsgeschichte, Nachhaltigkeitsdebatte, Crowding-Forschung, filmische Stadtdokumentationen. Dichte erscheint hier als eine relative Bezugsgröße, die offene Konzepte des architektonischen Entwurfs ermöglicht.
Schließlich eröffnet der vierte Teil – „Potentials“ – eine Perspektive auf die Frage, was Dichte für die stadträumliche Entwicklung bewirken kann, und inwieweit wir Stadterweiterung oder Nachverdichtung als ein Qualitätsmerkmal der Stadtentwicklung nutzen können. Die Beiträge versammeln unterschiedliche architektonische Strategien, die durch eine Erhöhung der Dichte nicht nur zersiedelte Gebiete „reparieren“, sondern auch neue Netzwerke, Mischnutzungen, Dialoge und damit eine nachhaltige Stadtlandschaft schaffen. In diesem Sinne spiegelt GAM.08 nicht nur die Komplexität und Vielschichtigkeit von Dense Cities wider, sondern thematisiert auch eine facettenreiche Vielfalt von Entwürfen, die basierend auf einem historisch und analytisch fundierten Rahmen klare Positionen zur Ausgestaltung von urbaner Verdichtung eröffnen.
[1] Vgl. Roland Barthes: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman, Vorlesung am Collège de France 1976–1977, Frankfurt am Main 2007.