GAM.05 – Urbane Zukunftsszenarien innerhalb neuer Wachstumsgrenzen. Gälte es dieser GAM-Nummer den substanziellen Kern zu entlocken, dann wäre es ein Paradigma: der Umweltbegriff ersetzt allmählich den Kapitalbegriff. Damit ist nicht gemeint, dass apokalyptische Postulate und grüne Moral an Durchschlagskraft gewinnen werden. Eher im Gegenteil. Es geht um den ernüchternden Befund, dass die Umwelt – ihre Natur, Künstlichkeit und ihr Wandel – einer politischen Ökonomie folgt, ähnlich eben wie das Kapital in den letzten 200 Jahren seine politische Ökonomie antizipiert hat. Mit dem historisch-materialistischen Unterschied allerdings, dass Umwelt auch ohne Kapital existieren kann, während Kapital ohne sie wertlos ist.
In den letzten 30 Jahren erscheint die Umweltpolitik als eine „Hausökologie des schlechten Gewissens“ (Dieter Hoffmann-Axthelm). Besseres Isolieren, Ölsparen und Solarzellen auf dem Einfamilienhausdach entsprechen zwar dem subjektiven Wunsch, einen Beitrag gegen den Ressourcenverschleiß zu leisten. Damit sind der Energieverbrauch und die Umweltbelastungen aber nicht gesunken, sondern gewachsen. Gemessen an der Gesamtrechnung hat die Vermarktung von „Umweltprodukten” nicht mal zur Schadensbegrenzung geführt. Was nutzt das ersparte Heizungsgeld, wenn es in einen Zweitwagen oder eine Drittwohnung investiert wird?
Heute und ausblickend ist die Privatisierung der Umweltpolitik unrealistisch. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob im Klimawandel und in der Ressourcenverknappung ein apokalyptisches oder evolutionäres Szenario gesehen wird. Denn die bisherige Entwicklung stoßt nicht nur an ökologische, sondern nun auch an immanente ökonomische Grenzen, die weltweit eine immer kleiner werdende Minderheit allenfalls noch überschreiten kann. Das fordistische Modell eines stetig wachsenden Wohlstandes und Konsums hat den Kulminationspunkt überschritten. Seit rund zehn Jahren findet ein „Downgrading“ von Wohlstand und Kaufkraft statt, das vor allem den breiten westlichen Mittelstand betrifft.
Innerhalb dieser Rahmenbedingungen sind Ökologie und Nachhaltigkeit weniger an Weltverbesserungsmodelle gebunden als an die Pragmatik und Effizienz innerhalb einer Gesamtbilanz, was auch für die bekannten Folgen und Kosten des Klimawandels gilt. Insofern wird auch das traditionelle Planungsverständnis vom Kopf auf die Füße gestellt. Es orientierte sich weitgehend an normativen Setzungen, was die Kluft zwischen idealem Leitbild und der Alltagsrealität zusehends vergrößert hat.
Entsprechende quantitative wie qualitative Potenziale, so die These, werden in der Stadt- und Siedlungsentwicklung gesehen – im Positiven wie im Negativen. Zum einen bestehen neue Verdichtungsmöglichkeiten, insbesondere immaterielle Formen; zum anderen hat das bisherige Siedlungswachstum ein Erbe hinterlassen, das nicht nur zunehmenden Energieverschleiß bedeutet, sondern auch den Verschleiß an Infrastruktur, Raum, Boden, Luft, Unterhalt und Zeit, was die Lebensqualität zunehmend einschränkt. Mit anderen Worten: Die Kollateralschaden setzen neue, strukturelle und engere Grenzen des Wachstums, welche die Wechselwirkungen von energetischen, ökonomischen, sozialen Fragen und Lebensqualität verdeutlichen.
Verdichtungsszenarien können sich nicht wie anfangs der 1970er Jahre um Einschränkungen von Siedlungswachstum drehen. Es geht um den Rückbau. Seine zeitliche Dimension besteht in der Pragmatik: Je später er realisiert wird, umso teurer wird er. In nordamerikanischen und europäischen Agglomerationen findet er bereits statt – erzwungenermaßen, weil die Lebensweise in stark zersiedelten Gebieten für viele, tendenziell für den gesamten Mittelstand, nicht mehr bezahlbar ist. Zum anderen kann der Rückbau die Chance bieten, eine andere, postfordistische Urbanität und Raumpolitik zu entwickeln.
Die Alternative – die Substitution von endlichen Ressourcenquellen ist keine, so wie das Versprechen, dass „noch unbekannte innovative Technologien“ die Probleme lösen werden, zumindest in absehbarer Zeit nicht eingehalten werden kann. Das Öl wird, da sind sich Energieforschung und Umweltpolitik inzwischen weltweit einig, in rund 10 Jahren extrem teuer oder versiegt sein. In dieser kurzen Zeit wird die Substitution mit anderen Energiequellen nicht gelingen – allenfalls marginal (weltweit um 6-10 %) und mit sehr beschränkten, auch mit nachteiligen Wirkungen, da der Verschleiß bloß auf andere Ressourcen – etwa auf Lebensmittel – verlagert wird.
Ein effizienter Umgang mit vorhandenen Ressourcen ist unausweichlich. Dazu gehören Verdichtungsszenarien, die – in welcher Form auch immer in naher Zukunft realisiert werden. Zahlreiche Indizien, deren Spektrum von politischen Druckmitteln bis zu neuen Forschungen und Strategien der Energiekonzerne reicht, verweisen auf den Paradigmenwechsel, der die Praxis gegenüber dem Postulat in den Vordergrund rückt. Dabei ist die städtebauliche Herausforderung unentrinnbar auch eine gesellschaftliche. Sowohl Machtverhältnisse als auch Konsumgewohnheiten und insgesamt die Lebensweisen werden tangiert. So sind Verdichtungsszenarien immer auch gesellschaftliche Szenarien vom Alltäglichen, was ein komplexes und zugleich wirklichkeitsnahes Verständnis von Nachhaltigkeit erfordert.
Rückblickend hat sich nicht nur die „Hausökologie des schlechten Gewissens” im Kreis gedreht – sowohl die monothematische Forschung als auch die produktfixierte Vermarktung haben ihre Nachhaltigkeit selbst in Frage gestellt. Das heißt, dass eine Umweltperspektive ohne ihre Repolitisierung wohl nicht zu haben ist. Mit gut Gemeintem bewegt man sich wie mit technischen Erfindungen in einem Feld, wo das Machbare auf Widersprüche, auf Macht und Ungewissheiten stößt. So besteht Nachhaltigkeit aus Fallen und Chancen; sie kann keinem Ideal folgen, allenfalls ihrer Selbstreflexion.
Für diese GAM-Nummer haben wir folgende Thesen und Fragen zur Diskussion gestellt:
- Wie leben wir morgen? Demografische Entwicklungen, veränderte Lebensweisen, Downgrading von Wohlstand, Konsumkraft und Mobilität, neue Formen und Mittel der Kommunikation, der Informationsverarbeitung und der Wissensproduktion sind einige Stichworte zukünftiger Gesellschaften.
- Urbane Lebensformen werden in naher Zukunft weltweit dominant. Wie können, wie sollen sich räumliche Zusammenhänge, soziale und informelle Netze konstituieren? Was konnte eine postfordistische Urbanität sein? Sind Städte mit Nullwachstum ein Realszenario?
- Das Siedlungswachstum stößt an seine eigene ökonomische und ökologische Grenze, so dass Verdichtungsszenarien – in welcher Form auch immer – entwickelt und realisiert werden müssen, Insofern besteht bereits heute ein Handlungszwang: Nichtstun ist die teuerste Variante im Umgang mit dem Siedlungswachstum und den bekannten Folgen vom Klimawandel.
- Es bestehen neue Möglichkeiten der Verdichtung. Die Standortabhängigkeit von Branchen, Funktionen und Nutzungen hat sich stark relativiert, sodass „Stadt“ fast überall entstehen und verschwinden kann. Damit sind Schrumpfungs- und Konzentrationsprozesse verbunden, die aktuell stattfinden. Sie werden vermehrt von unsichtbaren Impulsen angetrieben – Steuervorteile, soziale und digitale Netze, logistisches Kalkül, politische und gesetzliche Prämissen, globale Marktöffnungen für „hot spots“, temporäre Urbanität und dergleichen.
- In den meisten Hillen muss davon ausgegangen werden, dass räumliche Verdichtungen keine Tabula rasa, sondern die Transformation des Bestehenden voraussetzen. So kann Zersiedlung in eine konzentrierte Zersiedlung oder in lineare Städte übergehen, welche vorhandene Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen effizienter verwenden und Nutzungsmischung fordern. Dieses Szenario – Verdichtung nach Innen – hat auch Potenziale für relativ dichte Siedlungsgebiete wie die Schweiz, Holland und für bestehende Städte. In diesem Zusammenhang sind aktuelle Projekte, Stadtentwicklungsstrategien und konkrete Visionen von Interesse.
- In absehbarer Zeit sind autarke Siedlungsformen denkbar – mit einem geschlossenen Kreislauf an Energieverbrauch und -produktion bzw. mit neutralen Bilanzen an Umweltbelastungen. Ein Thema, das aktuelle Projekte und Beispiele einschließt.
- Räumliche Verdichtungen sind nicht mehr allein an bauliche Mittel gebunden. Die materielle Form koexistiert mit einer immateriellen Dichte, die Netze und Kommunikation herstellt. Welche Potenziale und Grenzen immaterielle Verdichtungsformen mittel- und langfristig haben, ist weitgehend unerforscht.
- Die Mikroebene räumlicher Verdichtung besteht in intelligenten Gebäudetypologien. Gebäude verbrauchen rund 50 % der Weltenergie. Insofern ist die hausenergetische Effizienz zwar evident, innerhalb einer Gesamtbilanz aber nur ein Aspekt. Relevante Fragen zur Performance von Gebäuden sind auch: Wie viel Land, Infrastruktur und Unterhalt verbrauchen sie? Wie viel Verkehr produzieren sie? Oder wie viel reduzieren sie durch synergetische Mischnutzungen? Und natürlich auch: Inwieweit erhöhen sie den Komfort und den Lebensgenuss? Hoch verdichtete, polyfunktionale Baustrukturen sind als Gebäudekomplexe mit radikaler Mischnutzung, als Städte in der Stadt oder als vertikale Städte denkbar. Auch bei diesem Thema stehen konkrete Projekte und Beispiele im Vordergrund.
- Im globalen Maßstab haben sich gegenläufige Szenarien entwickelt: Stadtwachstum versus Stadtschrumpfung. In den Schwellenländern expandieren die Städte, sodass die städtische Weltbevölkerung jedes Jahr um rund 50 Millionen wächst. Hingegen schrumpfen die meisten nordamerikanischen und europäischen Städte seit rund 50 Jahren. Es gibt aktuell aber auch Suburbanisierungsprozesse in China, Indien und in anderen asiatischen und arabischen Ländern, die weitgehend dem westlichen „Zersiedlungsmodell“ folgen und das vermeintliche Vorbild, was das Ausmaß betrifft, in den Schatten stellen. Auch wenn es sich um ein Auslaufmodell handelt, hilft die abendländische Belehrung später Einsicht nicht weiter. Vielmehr stellt sich die Frage, ob ökonomische Anreize oder andere s einen Trendwechsel bewirken konnten.
- So wie die räumliche Verdichtung stoßen auch hoch verdichtete Gebäudetypologien an Grenzen, welche die gesellschaftliche und emotionale Akzeptanz setzen. lnsofern gilt es auch entsprechende Gegenthesen und Kompromisse zu evaluieren.
- Im Sinn einer selbstreflexiven Moderne dreht sich eine Frage um die Grenzen der Planbarkeit. Ist das traditionelle Planungsverständnis veraltet, so wie sich das politische zum ökonomischen Primat verschoben hat? Sind normative Setzungen wirklichkeitsfremd, verschleiernd oder gar kontraproduktiv, weil sie die Diskrepanz zwischen Idealen und Siedlungsrealität vertiefen? Was konnten andere, erfolgreichere Planungsansätze sein?
Diese Fragen und Thesen werden in dieser GAM-Nummer nicht alle beantwortet und diskutiert. Bei unseren Recherchen hat sich herausgestellt, dass die Debatte zwar auf ein großes Interesse stößt, aber noch den Status einer Bestandsaufnahme oder einer Auslegeordnung hat. So folgen die Beiträge sehr unterschiedlichen Intentionen und Ansätzen – pragmatisch-praktischen Vorschlägen zur Verdichtung bestehender Siedlungen stehen größere und kleinere Visionen gegenüber – bis zur Frage, auf welcher theoretischen und politischen Grundlage der fachliche Diskurs überhaupt relevant werden kann.
Insofern kann diese GAM-Nummer keine abschließenden Erkenntnisse und Schlussfolgerungen bieten – außer dieser, dass diese Debatte im Vergleich mit zahlreichen anderen ihren Reiz im Paradox hat: Sie kann nur an Relevanz gewinnen, selbst wenn die Ideen und Lösungen sich als unterschiedliche Möglichkeiten des Scheiterns erweisen. Das kann für eine Disziplin mit ihren Zyklen selbstreferenzieller Episoden nur eine unwiderstehliche Chance bedeuten.