GAM 03

Editorial

Ullrich Schwarz

GAM.03 – Architecture Meets Life. Die Frage nach dem Zusammenhang von Architektur und Leben scheint erklärungsbedürftig zu sein, auch wenn man vereinfachend den Begriff Leben schlicht mit Nutzung, Gebrauch und Aneignung übersetzen würde. Denn schon in die konstitutive Definition von Architektur geht die Nutzung mit ein. Das hat historisch den Nebeneffekt gehabt, dass auch die tolerantesten Ästhetiker der Architektur den Zutritt zu dem allerheiligsten Bereich der modernen Kunst – ihrer Autonomie – immer verweigern mussten, da sie frei von praktischen Zwecken nun einmal nicht sein konnte. Diese Abweisung stellte für die Architekten natürlich eine Kränkung dar, wollten sie doch in der Regel weder als gehobene Handwerker, noch als Ingenieure oder als gewerbliche Händler von Bauplänen gelten. Das Urteil der Philosophen ließ sich aber – wie auch sonst – so auch in diesem Falle problemlos ignorieren, und so müssen wir weder auf den Begriff Baukunst noch auf das faktische Selbstverständnis vieler Architekten als Künstler verzichten.

Die Herausbildung der Berufsrolle des Privatarchitekten im Laufe des 19. Jahrhunderts stellte sich als ein mühsamer Anpassungsprozess eines Berufsstandes an die Prosa der kapitalistischen Industriegesellschaft und des Marktes dar, nachdem fürstliche und klerikale Auftraggeber ihre Dominanz eingebüßt hatten. Nach dem Ende des Historismus bot sich die Ideologie der „guten Form“ an – kräftig unterstützt vom Deutschen Werkbund –, um eine zwar unpolitische, aber doch am Guten orientierte Position einzunehmen, die sich als ästhetische Opposition zur Hässlichkeit der zeitgenössischen Wirklichkeit verstehen wollte. Gestaltung wurde so – die Wirkungen sind noch heute spürbar – zum Basisbegriff einer architektonischen Lebensverbesserung. Daraus resultierte ein Werkbegriff, der die gute Gestaltung mit höchster moralischer Aufladung zur Perfektion treiben wollte. Überspitzt gesagt, war dieses perfekt gestaltete architektonische Objekt aus dieser Perspektive sich selbst genug. Eigentlich störte der Nutzer nur. Oder er musste sich der auferlegten ästhetischen Ordnung restlos unterwerfen. Dazu passt, dass ein nicht unbekannter deutscher Architekt noch vor einigen Jahren den Einzug in die von ihm entworfenen Häuser mit den Worten kommentieren konnte: Jetzt kommt der Müllwagen.

Aber auch die implizit oder explizit eher gesellschaftspolitisch orientierte Fraktion der Architekturavantgarde des 20. Jahrhunderts will dem Bewohner ihrer Bauten, sprich dem „Leben“, keinen größeren Spielraum zugestehen. Ludwig Hilberseimer hält die Reinhaltung der objektivierten geometrischen Formen der Moderne gegenüber „Übergriffen“ von Seiten der Bewohner für das oberste Ziel. Bruno Taut verteidigt die leeren Wände gegen jede Dekoration und rät den Bewohnern, Bilder, Fotos und Ähnliches nur in Schubladen aufzubewahren. Hannes Meyer formuliert programmatisch: „Unser Gemeinschaftsbewusstsein erträgt keine individualistischen Ausschreitungen.“ Und ausgerechnet Walter Benjamin fordert in seinem Text Erfahrung und Anmut eine Architektur, in der man keine Spuren hinterlassen kann. In einer historisch eher verzweifelten Selbstkasteiung eines linken bürgerlichen Intellektuellen versteht Benjamin diese Spurenlosigkeit als ein anti-individualistisches Exerzitium – eine Einübung in das kollektive Klassenbewusstsein. Spurenlose Architektur als Vorschule der Revolution am Vorabend des Faschismus. Aber auch Le Corbusier, dem nichts ferner lag als die Revolution, propagierte dieses architektonische Ideal der Spurenlosigkeit. Bekanntlich erschreckte er sein bürgerliches Publikum mit der drohenden Alternative: Architektur oder Revolution. Natürlich kam für ihn nur die Architektur infrage, eine unberührte Architektur, der nicht einmal Kinder etwas anhaben konnten: „Die Kinder machen keinen Schmutz – sie lieben ihren Kindergarten und sind bestürzt über den kleinsten Fleck, den eines von ihnen gemacht hat. Sie sind ihre eigene Polizei.“

Ob in der Dimension des einzelnen Gebäudes oder im urbanistischen Maßstab: die „Diktatur der Philantropen“ (Gerd de Bruyn) blieb das bestimmende Moment der Planungskonzepte auch in der Nachkriegszeit, jedenfalls bis spätestens zu den frühen 1970er Jahren. Die Herstellung von veränderungsresistenten Endprodukten wurde nun wissenschaftlich optimiert: einer Taxonomie von objektivierten menschlichen Bedürfnissen wurde nun ein ausgeklügeltes Angebot von räumlichen Möglichkeiten zur Befriedigung dieser Bedürfnisse gegenübergestellt. Nichts blieb unberücksichtigt. An der ultimativen Planbarkeit des menschlichen Wohlergehens konnte nun kein Zweifel mehr bestehen. Doch diese Phase der wissenschaftlich befeuerten Planungseuphorie sollte nur von relativ kurzer Dauer sein. Seit Ende der 1960er Jahre lösten sich die Grundlagen des klassisch-fordistischen Reproduktionsmodells der westlichen Industriegesellschaften auf. Im Zuge dieser Entwicklung schwand auch die Gewissheit, für welchen Menschen und für welches Leben zu planen sei. Auch der Architektur und der Stadtplanung kamen die „großen Erzählungen“ (Lyotard) abhanden.

Heute haben sich die Verhältnisse abermals radikalisiert. Die Effekte der Globalisierung haben sich ständig intensiviert. Die politische Weltlage ist nach dem Ende des alten Ost-West-Konfliktes eher noch komplizierter geworden. Der gesellschaftliche Wandel beschleunigt sich auf allen Ebenen. Der Vorhersagbarkeit der zukünftigen Entwicklung sind in jeder Beziehung enge Grenzen gesetzt. Diese Situation hat Folgen für Architektur und Städtebau. Jeder Planungsansatz, der die aktuelle Entwicklung in den westlichen Gesellschaften nicht ignorieren will, muss heute ein hohes Maß an Ungewissheit in Kauf nehmen und kann diese Ungewissheit auch nur in tendenziell offene und undeterminierte Strukturen umsetzen.

Die Beiträge in diesem Heft untersuchen die methodischen Voraussetzungen für einen solchen neuen Planungsansatz, der hier u. a. auch als „Architektur des Nichtwissens“ (Kerstin Sailer) bezeichnet wird. Die Frage ist, wie sich der Entwurf auf eine solche Situation des Nichtwissens einstellen kann. Offensichtlich muss man davon ausgehen, dass heute weder die Methoden der partizipativen Planung noch die der technischen Flexibilisierung (verschiebbare Wände etc.) wirklich weiterhelfen. Eindrucksvoll ist dagegen nach wie vor der empirische Erfolg weitgehend funktionsneutraler Wohnungsgrundrisse. Bestätigt dieser Befund die These: Architektur ist Hintergrund? Architektur als Hintergrund einer unbestimmten Alltäglichkeit oder als auslösendes Moment des Besonderen, des Neuen, des noch Nie-Dagewesenen? Silke Ötsch untersucht vor diesem Hintergrund die Ereignisarchitektur von Bernard Tschumi und kommt dabei zu ernüchternden Ergebnissen. Die Mystifizierung des Unbestimmten und die Auratisierung des Neuen werden von der Realität nicht nur zurechtgestutzt, sie erweisen sich auch theoretisch als affirmativer als sie scheinen. Bei Tschumi und vielleicht noch stärker bei dem spätavantgardistischen Ansatz Eisenmans wird eine latente Version des Determinismus greifbar, die von einem mehr oder minder direkten Einfluss der Architektur bzw. des Raumes auf Wahrnehmung und Verhalten ausgeht, wenn auch in der „kritischen“ Variante.

Genau an diesem deterministischen Verhältnis ergeben sich zunehmend Zweifel, sobald man das betreibt, was man als Wirkungsgeschichte der Architektur bezeichnen könnte. Die traditionelle Architekturgeschichte kennt die Form- und Stilgeschichte sowie die Heldengeschichte, die sich an einzelnen Architektenpersönlichkeiten orientiert. Geboten wird dabei in der Regel eine allgemeine Kultur- und Ideengeschichte, die sich an den Absichten der Akteure festmacht. Was aus den Intentionen der Architekten dann real geworden ist, wird in den Standardwerken der Architekturgeschichte nicht behandelt. So bleibt eine Wirkungsgeschichte der Architektur, oder anders gesagt: eine Geschichte ihrer Nutzung und ihres Gebrauchs ein dringendes wissenschaftliches Desiderat.

Erste Forschungsergebnisse liegen vor und die Beiträge zu diesem Heft bestätigen sie: es gibt keine simplen Beziehungen zwischen architektonischer Form und dem Verhalten und der Wahrnehmung der Nutzer. Viele Fragen, vielleicht die meisten, sind in diesem Zusammenhang noch ungeklärt. Die Diskussion muss fortgesetzt werden.