GAM 09

Editorial

Roger Riewe

Die bauliche Realisierung setzt der architektonischen Vorstellungskraft kaum mehr Grenzen: Wir können das, was wir gedanklich konzipieren, weitgehend auch baulich umsetzen. Dazu tragen Architekten, Tragwerksplaner, Ingenieure für Infrastruktur, Bautechnologie und Energie als Fachexperten bei; sie stützen sich dabei auf eine unermesslich scheinende Auswahl an Materialzusammensetzungen und eine Vielzahl von traditionellen und innovativen Verarbeitungstechnologien. In Verbindung mit einem offenen Budget bildet diese Konstellation den Rahmen, in dem Planungen und Entwürfe jeglicher Art bauliche Realität werden können.

Die von dieser Option ausgelöste Euphorie stellt sämtliche klassischen architektonischen Elemente – insbesondere aber die Wand – als immanente Bestandteile der Architektur neu zur Disposition. Die vorliegende Ausgabe des Grazer Architektur Magazins hinterfragt in diesem Möglichkeitsraum die Wand als Element, als Struktur sowie in ihrer Funktion und legt hierbei einen besonderen Fokus auf Wände als räumliche Schichtungen. GAM.09 geht der Frage nach, ob es möglich ist, die traditionelle Trennung zwischen äußerer Form und innerer Funktion von Wänden um eine Perspektive zu ergänzen, die die Wandfunktionen des Tragens, Speicherns und Bewahrens gemeinsam mit Qualitäten des verbindenden Austauschs zwischen innen und außen artikuliert.

Gegenwärtig prägen zwei wesentliche diskursive Stränge diese Diskussion, die ausgehend von einer tektonischen Betrachtung der Wand eine topologische Neupositionierung vornehmen oder aus einer tektonischen Betrachtung eine technologische Auseinandersetzung mit ihren Funktionen führen.

Seitdem es die Wand im Architekturdiskurs gibt, existiert gleichzeitig auch die Bestrebung, sich ihr wieder zu entledigen, sie zu entmaterialisieren. Wenn nun die Wand von ihren konstruktiven Funktionen entlastet wird – diese Können auch Stützen und Träger übernehmen – dann wird sie dadurch nicht bedeutungsärmer, sondern kann vielmehr neue thematische Setzungen erfahren. Selbst ihre gänzliche Entmaterialisierung macht die Absenz dieses zentralen Elements erst recht zum Kennzeichen eines Entwurfs – die materiell nicht vorhandene Wand gewinnt an architektonischer Bedeutung und wird wichtiger als je zuvor!

Zudem führen die gegenwärtigen technologischen Neuerungen und Entwicklungen der Wand zu einer Erweiterung ihrer Funktion und Bedeutung, wodurch sie weder im tektonischen noch im topologischen Sinne eindeutig zu positionieren ist. An solchen Neukonzeptionen von Wänden interessieren uns in GAM.09 sowohl ihre Auswirkungen auf den architektonischen Raum wie auch die sich darin artikulierende Kritik an der überkommenen Funktion von Wänden als architektonische Grundelemente.

„Wände sind nur scheinbar gewöhnliche Bauteile, sie zeichnen sich durch eine Vielzahl von Potenzialen aus. Wände können tragen, sie können trennen und schützen, sie können aber auch verbinden, Raum und Räume bilden, das Raumklima kontrollieren, Funktionen in sich aufnehmen. Ihre Materialität und ihr Aufbau sind als Struktur, Rhythmus und Tektonik erlebbar. Wände können zur Energieerhaltung und -gewinnung eingesetzt werden und sie werden in jüngster Zeit immer mehr zu dynamisch reagierenden, aktiven Elementen.“

So hatten wir es in unserem Call for Papers formuliert und daraufhin zahlreiche Vorschläge erhalten, sich diesem Thema auf unterschiedlichste Weise zu nähern. Die interessantesten Beiträge haben wir hier in GAM.09 gesammelt. Zudem haben wir zwei Fotografen, Hélène Binet und Paolo Rosselli, gebeten, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Eine kleine und sehenswerte Auswahl ihrer Bilder ist in dieser GAM-Ausgabe abgedruckt.

GAM.09 strukturiert Wände als räumliche Sequenzen in folgenden drei thematischen Schwerpunkten: DISSOLUTIONS, TRANSITIONS und CORRELATIONS.

Der erste Teil – DISSOLUTIONS – beleuchtet die „Auflösung“ der konventionellen Bedeutung von Wänden in ihren Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen. Adrian Fortys „Ein Leben nach dem Tod“ analysiert diesen Vorgang und richtet seinen Blick auf die Zukunft der Wand, obwohl sie schon oft totgesagt wurde. Bernhard Siegerts „Nach der Wand. Interferenzen zwischen Rastern und Schleiern“ setzt sich mit einer postparietalen Architektur auseinander, während er einer Dekonstruktion und Neukodierung der Wand in den Installationen von Veronika Kellndorfer einen speziellen Fokus widmet. Danach analysiert Ivica Brnić die „diaphanen Wände“ der St. Pius Kirche von Franz Fueg in Meggen/CH in ihrer Wirkung auf den transluzenten Innenraum und die sakrale Raumerfahrung. Till Lensing nähert sich dem Thema der Auflösung der Wand in seinem Beitrag „Abwesende Wände“ mit einer Untersuchung von zwei Ferienhäusern von Silvia Gmür und Livio Vacchini auf Paros. Sabine Zierold greift die „medialen Schichtungen der Wand“ auf und lotet ihre Funktion als medialer Bedeutungsträger aus. Abgeschlossen wird der erste Teil mit George Teyssots Text „Architektur als topologischer Operator“, in dem er die Wand neben ihrer tektonischen Bedeutung als topologisches Element bestimmt und grundlegend hinterfragt.

Der zweite Teil von GAM.09 – TRANSITIONS/„Übergänge“ – diskutiert Überschreitungen der klassischen Unterteilung von Innen und Außen und fasst Wände als Architekturen des Übergangs. Eduardo Meissner stellt das von Pezo von Ellrichshausen in Chile realisierte Poli House vor, eine funktionstragende Hülle als Wohnhaus, dessen Wände komplexe Schichtungen bilden. Die folgende Fotostrecke von Hélène Binet bearbeitet haptische Dimensionen von Wänden bekannter Architekturen in ungemein subtiler Weise. Barry Bergdoll widmet sich der Wand als Übergang anhand der Iglesia del Santísimo Redentor von Fernando Menis in St. Cruz/Teneriffa, deren Wände einen komplexen Dialog mit der Topografie der Insel führen und trotz ihrer Massivität lichtdurchflutete Innenräume ermöglichen. Joost Meuwissens „Mauern und Träume vom Gefängnis um 1980“ diskutiert die Bedeutung von Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ für zwei Gefängnisprojekte von Rem Koolhaas und Carel Weeber. Die darauf folgende Fotostrecke von Paolo Rosselli bricht mit dem Perfektionismus in der Architekturfotografie und zeigt unterschiedliche Manifestationen von Wänden, die die Grenze zwischen Form und Funktion spielerisch hinterfragen.

Der dritte Teil – CORRELATIONS – widmet sich den „Wechselbeziehungen“ von Form und Funktion der Wand. Laurent Stalders „Mauer, Maschine, Milieu“ hinterfragt die technologische Aufladung der Wand und positioniert diese als „Mi-Lieux“, wohingegen Tim Lüking in seinem Beitrag fordert, einschichtigen Wänden im Kontext gegenwärtiger technologischer Entwicklungen wieder eine Chance zu bieten. Abschließend plädiert Ferdinand Oswald in subtropischen Klimazonen für eine Wand, deren Trennung zwischen Innen und Außen um ihre Funktion als klimaregulierendes Element erweitert wird. Im Rezensionsteil von GAM.09 ist neben zahlreichen Buchbesprechungen auch George Bairds sehr persönliche und gleichzeitig ungemein tiefgründige Abwägung zweier Ikonen zeitgenössischer Architektur enthalten, der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun und der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles von Frank Gehry. Die Faculty News geben abschließend Einblick in Projekte und Events der Architekturfakultät der Technischen Universität Graz.